Von Siegmund Freud haben Sie sicher schon gehört, aber kennen Sie auch Carl Custav Jung, Otto Rank oder Wilhelm Reich? Sie gehörten zu den ersten Menschen, die gesundheitliche Probleme nicht mehr nur auf körperliche Ursachen zurückführten, sondern die Psyche untersuchten. Wer sind wir und was prägt unsere Persönlichkeit – diese Fragen beschäftigen uns bis heute. Die ersten Antworten suchten einige Männer und Frauen, die damit den Grundstein für die Psychotherapie legten.
Ihre Ideen und Theorien haben deshalb bis heute Einfluss. Steve Ayan, studierter Psychologe und Wissenschaftsjournalist, hat diesen „Lichtgestalten“ ein Buch gewidmet. In „Seelenzauber“ aus dem dtv Verlag begleiten wir Sigmund Freud, seine Schüler und Schülerinnen, aber auch einige Abweichler:innen und Nachfolger:innen auf der Suche nach Antworten. Doch welchen Einfluss hat ihr Weg bis heute? Das erläutert Steve Ayan in unserem Interview.
Die Anfänge der Psychotherapie
sanego: Sie schreiben in »Seelenzauber« über den Beginn der Psychotherapie. Wann hat diese denn genau angefangen?
Steve Ayan: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zwar operierten Mediziner lange zuvor bereits mit Begriffen wie Wahnsinn, Irresein oder Hysterie. Aber die bis dahin üblichen »Behandlungen« wie die Hydro- oder die Elektrotherapie – kalte Güße und elektrische Reizung – waren offensichtlich nutzlos. Das lag vor allem daran, dass die Ärzte glaubten, jedes Seelenleiden müsse körperlich verursacht sein. Alles andere hielt man für Simulantentum oder Willensschwäche. Sigmund Freud ging, angeregt durch den befreundeten Mediziner Josef Breuer erstmals neue Wege. Freud glaubte, man könne durch Reden, das berühmte freie Assoziieren, die psychischen, genau genommen sexuellen Traumata in der Erinnerung freilegen. Indem man den »verklemmten« Affekt dann ausagiere, sei Heilung möglich. Die Psychoanalyse, die aus der Hypnose und Suggestion entstand, war zunächst fast alternativlos, entwickelte sich aber rasant fort. Erst später, vor allem ab den 1940er-Jahren, kamen die Verhaltenstherapie, humanistische und systemische Ansätze hinzu.
sanego: Neben Freud gab es zahlreiche andere Männer und wenig später auch Frauen, die den Grundstein für Theorien und Behandlungen zur psychischen Gesundheit legten. Welche der beteiligten Personen finden Sie persönlich am interessantesten?
Steve Ayan: Eine schillernde Figur war sicherlich der Berliner Fritz Perls, den seine Frau Lore, ebenfalls eine bedeutende Gestalttherapeutin, einmal als Mischung aus Genie und Taugenichts bezeichnete. Die Perls waren wichtiger Impulsgeber der antiautoritären »Gegenkultur« in den 1960ern. Eine der ersten Frauen, die Zutritt zum Männerklub der frühen Psychoanalytiker erhielt, war die Russin Sabina Spielrein, die bei C. G. Jung in Zürich gelernt hatte. Sie war von der Patientin zur Ärztin und Analytikerin geworden, keine seltene Karriere in jenen Zeiten.
Steve Ayan
ist seit 2003 Redakteur bei Spektrum Wissenschaft. Zuvor studierte er Wissenschaftsjournalismus, Psychologie und Literaturübersetzen. Zudem ist er Autor mehrerer Sachbücher: "Ich und andere Irrtümer – Die Psychologie der Selbsterkenntnis", "Was man noch sagen darf" und "Seelenzauber".
Psychotherapie einst und heute
sanego: Manche der Theorien, die sie in »Seelenzauber« beschreiben, haben noch heute Bestand, andere klingen aus heutiger Sicht lächerlich. Was können wir von den Begründer:innen der Psychotherapie lernen?
Steve Ayan: Viele Ideen aus der früheren Wissenschaft und Medizin erscheinen uns heute skurril und abwegig, weil wir dem Rückschaufehler erliegen: Wir können uns schwer in die Lage und den Wissensstand der Menschen von damals zurückversetzen. Was man einst für plausibel hielt, erregt heute Kopfschütteln. So ähnlich wird es wohl den Leuten in hundert Jahren mit unseren eigenen Ansichten gehen. In der Psychotherapie kommt noch hinzu, dass man den eigenen Ansatz meist durch eine große Lehre, eine Weltanschauung begründete. Man suchte also nicht einfach pragmatische Lösungen für Alltagsnöte, sondern verhandelte Menschenbilder. Ein Beispiel ist Wilhelm Reich, der von Freuds Musterschüler zum Verfemten wurde, weil er nicht nur Marxist war, sondern die sexuelle Energie, Reich sprach von »orgastische Potenz«, zur Richtschnur für Gesundheit erhob. Seine einstigen Wegbegleiter erklärten ihn dann für verrückt und schlossen ihn aus ihrem Kreis aus. Solche Ausgrenzungen waren die Regel.
sanego: Und was hat sich im Gegensatz zu damals grundlegend verändert?
Steve Ayan: Die Psychotherapie ist längst nicht mehr so dogmatisch und ideologisch wie einst. Sind wir Marionetten unserer verdrängten Triebe? Ist unser Denken und Fühlen allein ein Produkt gelernter Muster? Von derart einseitigen Sichtweisen ist man inzwischen abgekommen. In diesem Zuge ist auch das alte Schulendenken glücklicherweise nicht mehr in dem Maß präsent. Heute weiß man, dass es neben Einsicht noch mindestens zwei weitere zentrale Wirkfaktoren gibt: Neue, positive Erfahrung machen, etwa im Rahmen einer von Akzeptanz geprägten Beziehung zum Therapeuten, und alternative Denk- und Handlungsweise einüben. Diese beiden Aspekte stellten vor allem humanistische Therapeuten wie Carl Rogers und die moderne Verhaltenstherapie ins Zentrum.
Der Einfluss von Marketing auf die Psychotherapie
sanego: Eine wichtige Gemeinsamkeit der Begründer:innen von Psychotherapie: Sie alle wollten mit Ihren Ideen Geld verdienen, viele stammten zudem aus Kaufmannsfamilien. Inwiefern hat das ihre Arbeit geprägt? Und wie beeinflusst das Konzept die Psychotherapie noch heute?
Steve Ayan: Wer kommerziell erfolgreich sein will, muss eine attraktive Marke etablieren und Kompetenz ausstrahlen. Aus diesem Grund waren sich Vertreter der verschiedenen Therapieströmungen oft spinnefeind, gegenseitige Anfeindungen waren üblich. Ein Baustein des Erfolgs von Psychotherapie ist bis heute das, was Freud die »gläubige Erwartung« nannte. Weil Hoffnung mitheilt, etablierte sich das Bild vom Psychologen mit dem Röntgenblick, der tief in die Seele des Menschen blickt und ihn geradezu verwandeln kann. Doch natürlich tut Psychotherapie das so gut wie nie. Sie ist eine Dienstleistung, die Menschen mit seelischen Problemen helfen kann, ihren Alltag etwas besser zu bewältigen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
sanego: Grundlage für die Psychotherapie ist Vertrauen in den Therapeuten bzw. die Therapeutin und der Glaube, dass die Theorie dahinter funktioniert. Das birgt viele Chancen, aber auch ein Risiko, oder?
Steve Ayan: Man weiß heute aus Studien, dass der Anteil des Placeboeffekts in der Psychotherapie gut die Hälfte der Heilwirkung ausmacht. Zuwendung und die positive Erwartung der Patienten, die Möglichkeit, sich aussprechen und mit den eigenen »Macken« angenommen zu werden, wirken schon allein oft lindernd. Echte Therapie sollte darüber hinausgehen, um nachhaltige Veränderung zu bewirken. Umgekehrt lässt sich die Macht der Placeboeffekte leicht missbrauchen, um kaum nutzbringende Selbsthilfe- und Cochingmethoden zu verkaufen. Davon gibt es heute wahrlich mehr als genug.
„Das therapeutische Narrativ durchdringt unser ganzes Leben“
sanego: Heute geht es in der Psychotherapie nicht mehr um einzelne Persönlichkeiten, sondern um eine evidenzbasierte Wissenschaft. Das Narrativ dahinter ist aber geblieben, oder?
Steve Ayan: Ja, das therapeutische Narrativ durchdringt unser gesamtes Leben: Erkenne, wer du wirklich bist! Horche ich dich hinein, beschäftige dich aufmerksam mit dir selbst, nur so findest du zu einem erfüllten Leben im Einklang mit deinem wahren Ich! Das ist sicher nicht grundsätzlich verkehrt, jeder von uns braucht Erklärungen und will sich gut fühlen in der eigenen Haut. Aber es birgt auch ein Risiko. Psychische Nöte sind multikausal, sie lassen sich nicht auf einen einzelnen Faktor, ein bestimmtes Erlebnis oder ein falsches Denken zurückführen. Die verbreitete Suche nach dem eigenen Trauma, mit dem einem die Eltern oder sonstwer unüberwindliche Steine in den Weg gelegt hat, ist so eine Gefahr. Statt nach dem Schuldigen zu suchen, sollte man besser nach vorn blicken und sein Leben aktiv gestalten, auch wenn das oft ein steiniger Weg ist. Dazu gehört nämlich auch, eigene Schwächen, Verletzungen und negative Gefühle hinzunehmen, statt gedanklich nur darum zu kreisen.