Hochbegabt sind wahre Genies, Wissenschaftler:innen, Künstler:innen oder Mathematiker:innen, die komplizierte Aufgaben lösen und vielleicht in sozialen Situationen nicht gut zurechtkommen. Aber auch die Bankkauffrau oder der Sportlehrer, die ein ganz typisches Leben führen, können hochbegabt sein. Denn Hochbegabung im wahren Leben entspricht nur selten dem Bild, das wir davon haben.
Viele Hochbegabte erfahren erst im Erwachsenenalter, warum sie anders als der Großteil der Bevölkerung sind. Stefan Giesberg ist einer davon. Erst mit 48 Jahren wusste er sicher, dass seine unerschöpfliche Begeisterung, Neues auszuprobieren, auf einen hohen IQ zurückzuführen ist. Gemeinsam mit Ulrich Pieper und Anna Campagna hat er seine und ähnliche Geschichten für ein Buch zusammengetragen. In Plötzlich hochbegabt aus dem Goldmann-Verlag finden sich 27 Lebensgeschichten von spät erkannten Hochbegabten ebenso wie Informationen und nützliche Kontakte für Hochbegabung im Erwachsenenalter.
Im Interview gibt er einen Überblick, was Hochbegabung im Alltag bedeutet, wie es zu einer Diagnose kommt und warum sie oft spät erkannt wird.
Hochbegabung - Was ist das?
sanego: Was ist Hochbegabung genau?
Stefan Giesberg: Hochbegabung bezieht sich in der Regel auf eine überdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit. Diese wird über standardisierte Tests ermittelt und mit einem IQ-Wert belegt. In diesen Tests werden Unterkategorien wie verbales Verständnis, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit erhoben.
Die Ergebnisse von IQ Tests sind normalverteilt, sodass die meisten Menschen ein Ergebnis von 100 erreichen (Spitze), während die Werte nach beiden Seiten hin immer seltener werden. Am rechten Rand der Verteilung bedeutet ein IQ über 130 bereits, dass man zu den oberen 2,1% der Bevölkerung gehört – diese Schwelle wird traditionell als Grenze für Hochbegabung angesehen. Noch weiter am Rand, bei einem IQ über 145, spricht man von höchstbegabten Personen, die nur etwa 0,1% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Diese extremen Abweichungen sind statistisch so selten, dass in einer Gruppe von 1.000 zufällig ausgewählten Menschen durchschnittlich nur eine Person einen IQ über 145 haben würde.

Die etwas abwertende Aussage „Menschen mit hohem IQ sind die, die gut in einem IQ Test sind" stimmt damit zwar inhaltlich, es sind aber tatsächlich grundlegende intellektuelle Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, diese Leistung zu erbringen. Ob und wie diese Fähigkeit dann in gute Leistung mündet, ist aber ein komplexeres Thema. Hier kommen dann Aspekte wie die individuelle Förderung, das soziale Umfeld, das Selbstbild und die psychosoziale Passung ins Spiel.
sanego: Wie viele Menschen in Deutschland sind hochbegabt?
Stefan Giesberg: Laut Definition sind 2% der Menschen hoch- und 0,1% höchstbegabt. Dieser Anteil ist unabhängig von der Herkunft, dem Geschlecht, der Bildung und anderen Einflussfaktoren. Damit wären in Deutschland (84 Millionen Einwohner) ungefähr 1,7 Millionen Menschen hochbegabt und 84 Tausend Menschen höchstbegabt. Davon sind zur Zeit ca. 20.000 in Vereinen organisiert.
Beispiele: Im Münchner Olympiastadion mit angenommenen 70.000 Sitzplätzen wären bei einem ausgebuchten Spiel statistisch 1400 hochbegabte und 70 höchstbegabte Menschen zu erwarten. In einer Schule mit drei bis vier Zügen (Klasse 1a-1d) sind 2 hochbegabte Kinder zu erwarten!

Woran können Sie Hochbegabung erkennen?
sanego: Wie äußert sich eine Hochbegabung?
Stefan Giesberg: Bei jedem Menschen anders. Aus den Geschichten im Buch und aus Gesprächen lassen sich aber einige Gemeinsamkeiten finden. Diese werden aber nicht von allen so empfunden, man kann also auch hochbegabt sein, ohne diese Beobachtungen zu machen:
„Wrong Planet“/ „Alien“-Syndrom. Viele berichten von einem Gefühl, nicht dazu zu gehören. Die Themen und Denkweisen der Mitmenschen werden als befremdlich und irrelevant wahrgenommen.
Unfähigkeit, Smalltalk zu machen.
Eine breite und intensive Neugier. Häufig werden auch später im Leben noch Studiengänge und neue Lerngelegenheiten wahrgenommen.
Werte, Absprachen und Regeln werden häufig als sehr wichtig empfunden, autoritäre und schwer nachvollziehbare Regeln häufig abgelehnt.
Häufiger der Sache als den politischen Spielchen verpflichtet.
Das Gefühl, sehr schnell zu wissen, was ein Gesprächspartner sagen möchte, verbunden mit der Herausforderung, zu ertragen, dass es aber noch zehn Minuten dauert, bis er fertig ist. In Besprechungen kommen von Hochbegabten häufig sehr schnell valide Lösungsvorschläge, die zunächst ignoriert und später (Stunden später) als Konsens von anderen präsentiert werden.
Damit verbundene Langeweile (in Schule und beruflichem Kontext).
Auf der einen Seite eine große Ungeduld, wenn die Lösungen/ das Ergebnis schon klar erkennbar (vermeintlich) auf dem Tisch liegt, auf der anderen Seite eine fast schon pathologische Geduld, wenn sich im Flowtunnel aufgehalten wird. (Hyperfokus!).
hohe Ansprüche an sich (Perfektionismus!).
Intensives Erleben und Verarbeiten von Sinneseindrücken.
sanego: Was bedeutet das im Alltag?
Stefan Giesberg: Hochbegabung kann im Alltag verschiedene Auswirkungen haben. Betroffene erleben oft eine gewisse kognitive Einsamkeit, da sie Schwierigkeiten haben, Gesprächspartner zu finden, die in ähnlicher Geschwindigkeit und Tiefe denken. Dies kann zu sozialer Isolation führen, aber auch zu einer Suche nach speziellen Interessengruppen oder Communities.
Im Berufsleben können Hochbegabte einerseits durch schnelles Erfassen komplexer Zusammenhänge und kreative Lösungsansätze beeindrucken, andererseits durch Ungeduld, Langeweile bei Routineaufgaben oder Frustration mit organisatorischen Ineffizienzen auffallen.
Andere Menschen erwarten gerne geniale Fähigkeiten, riesige Allgemeinbildung und andere Besonderheiten, wenn der Begriff „Hochbegabt“ fällt. Das trifft jedoch nur auf eine kleine Gruppe Hochbegabter zu.
Im Privatleben kann die Hochbegabung zu einem ständigen Bedürfnis nach geistiger Stimulation führen – sei es durch das Verfolgen vielfältiger Interessen, kontinuierliches Lernen oder intensive Gespräche über tiefgründige Themen. Partnerschaften und Familienbeziehungen können durch diese besonderen Bedürfnisse herausgefordert werden, besonders wenn ein Verständnisunterschied besteht.
Eine große Herausforderung ist oft die Balance zwischen intellektuellen Bedürfnissen und emotionalen oder sozialen Aspekten des Lebens zu finden.
lebt mit seiner Familie im Ruhrpott und ist in vielen unterschiedlichen Projekten aktiv. So engagiert er sich zum Beispiel im Hochbegabtenverein Mensa e.V. und unterstützt mit Diplom-Psychologin Frauke Niehues späterkannte Hochbegabte.
Warum wird Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen nicht erkannt?
sanego: Warum wird eine Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen oft nicht erkannt?
Stefan Giesberg: Der Begriff „Hochbegabung" wird häufig mit genialen Leistungen gleichgesetzt. Viele hochbegabte Kinder können ihre Leistungsfähigkeit im Schulsystem jedoch nicht zeigen. Insbesondere Mädchen bleiben häufiger als Jungen „unter dem Radar", da sie oft besser darin sind, sich anzupassen und nicht aufzufallen (neben anderen Gründen wie gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern).
Es ist ein Missverständnis, dass hochbegabte Kinder automatisch bessere Schulleistungen erbringen. Häufiger sind sie unterstimuliert, gelangweilt, abgelenkt und lernen dadurch nicht, effektive Lernstrategien zu entwickeln. Sie erleben oft ein Gefühl der Andersartigkeit (was zu sozialer Isolation oder Mobbing führen kann) und haben den Eindruck, nicht verstanden zu werden.
Zur Veranschaulichung: Ein Kind mit einem sprachlichen IQ von 140 im Alter von 8 Jahren kann problemlos mit Texten arbeiten, die für die zehnte Klasse konzipiert sind – wenn diese nicht inhaltlich für Achtjährige unangemessen wären. Oder mathematisch hochbegabte Kinder, die Bruchrechnung innerhalb weniger Minuten verstehen, müssen in ihrer zweiten Klasse intensiv das Addieren bis hundert mit Zehnerübergang üben.
Eine passende Metapher: Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag dieselben Fenster putzen. Nicht unterschiedliche Fenster, sondern exakt dieselben, die Sie gestern, vorgestern und alle Tage zuvor bereits gereinigt haben. Wenn es gut läuft, verspricht Ihr Vorgesetzter Ihnen zur "Belohnung" für Ihre schnelle und gründliche Arbeit, dass Sie am Ende der Woche noch ein paar zusätzliche Fenster putzen dürfen.
Ein weiterer Effekt ist, dass hochbegabte Kinder häufig keine angemessene Spiegelung ihrer Fähigkeiten erfahren. Ein eindrucksvolles Beispiel von Frauke Niehues verdeutlicht dies:
„Summmmm..." Die ganze Klasse ruft im Chor: „Biene!"
Das hochbegabte Kind denkt jedoch weiter nach: „Hmmmm... Schwebfliege? Wespe? Hornisse? Honigbiene? Oder vielleicht eine Fliege? Könnte auch eine bestimmte Art Käfer sein... Oh je, ich bin offenbar die Einzige, die es nicht sofort weiß – bin ich nicht so schlau wie die anderen?"
Nächstes Geräusch: „Brülll!" Die ganze Klasse ruft sofort: „Löwe!"
Das hochbegabte Kind überlegt wieder: „Tiger? Gepard? Schakal? Hyäne? Ach nein, alle sind sich sicher, es muss wohl ein Löwe sein..."
Statt für sein differenziertes Denken und seine umfangreicheren Kenntnisse bestätigt zu werden, erlebt das Kind seine Denkweise als Nachteil und beginnt, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Diese fehlende Bestätigung kann langfristig zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung und zur Unterdrückung des eigenen Potenzials führen.

Die “Diagnose” Hochbegabung
sanego: Was ändert sich durch die Erkenntnis „Ich bin hochbegabt“? Warum sollte ich mich testen lassen?
Stefan Giesberg: In unserem Buch berichten „plötzlich Hochbegabte“ über ihr Erlebnis und die frühen Reaktionen auf ihr Testergebnis. Es ist häufig die Rede von Unglauben, Schock und Verwunderung. In der darauf folgenden Aufarbeitungsphase werden dann zumeist biographische Episoden anders eingeschätzt und umgedeutet. In vielen Geschichten kann man als Folge dieser Neubewertung eine größere Milde mit sich selbst und anderen erkennen. Die Erkenntnis über die eigene Begabung führt auch häufig dazu, dass die Autorinnen sich neuen Herausforderungen stellen und auch in der zweiten Lebenshälfte noch neue Projekte wie ein Studium, Jobwechsel und anderes wagen.
sanego: Ist Hochbegabung vererbbar?
Stefan Giesberg: Ja, Hochbegabung hat eine starke genetische Komponente. Studien an Zwillingen und Adoptivkindern zeigen, dass etwa 50-80 % der Intelligenzunterschiede genetisch bedingt sind. Dies bedeutet, dass hochbegabte Eltern mit größerer Wahrscheinlichkeit hochbegabte Kinder haben.
Allerdings spielen auch Umweltfaktoren eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des kognitiven Potenzials. Eine anregende Umgebung, Zugang zu Bildung, emotionale Unterstützung und die Förderung von Lernmotivation können einen signifikanten Einfluss auf die Entfaltung intellektueller Fähigkeiten haben.
In vielen Familien mit hochbegabten Kindern sind zumindest ein oder beide Elternteile ebenfalls hochbegabt, was oft erst bei der Diagnose des Kindes erkannt wird. Dies führt manchmal zu einer Art "Domino-Effekt" von Testungen innerhalb von Familien.
Hilfsangebote und Kontakte
sanego: An wen kann ich mich wenden, wenn ich eine Hochbegabung bei mir vermute?
Stefan Giesberg: Es existieren eine Vielzahl von „Online Angeboten“ und Apps, die damit werben, einen IQ Wert ermitteln zu können. Diese sind in der Regel unseriös und können keinen korrekten Wert ermitteln.
Für eine professionelle Diagnose kann man sich an folgende Stellen wenden:
Psychologische Praxen mit Schwerpunkt Hochbegabungsdiagnostik – spezialisierte Psychologen können standardisierte IQ-Tests durchführen und die Ergebnisse fachkundig interpretieren. Diese können auch auf persönliche Besonderheiten eingehen.
Hochbegabtenvereine wie Mensa e.V. bieten regelmäßig Testungen an und können auch bei der Vernetzung mit anderen Hochbegabten helfen.
Universitäre Beratungsstellen für Begabungsforschung und -förderung.
Schulpsychologische Dienste (besonders relevant für Kinder und Jugendliche).
Nach der Diagnose können folgende Ressourcen hilfreich sein:
Selbsthilfegruppen und Netzwerke für Hochbegabte.
Coaching-Angebote speziell für Hochbegabte.
Literatur zum Thema Hochbegabung (Sachbücher, Erfahrungsberichte).
Online-Communities und Foren zum Austausch.
Die “Diagnose” ist zumeist nur der erste Schritt. Der konstruktive Umgang mit der eigenen Hochbegabung ist ein Prozess, der Zeit und Reflexion erfordert. Die ersten Schritte in diesem Prozess werden in unserem Buch eindrucksvoll und vielfältig bunt dargestellt.