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Wie können sich Schwangere auf die Geburt vorbereiten? Frauenarzt Dr. med Wolf Lütje im Interview

Von: Elisabeth Maußner

Veröffentlicht: 06.06.2025

Lesezeit: 7 Min.

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Schwangere mit nacktem Bauch betrachtet Ultraschallbild auf Tablet.
Viele Schwangere freuen sich auf ihr Kind, haben aber große Angst vor der Geburt. | © ViDi Studio - stock.adobe.com

Was erwartet mich bei der Geburt?

Welche Abläufe gibt es im Kreißsaal?

Und wo kann ich mein Kind sicher zur Welt bringen?

Spätestens während der Schwangerschaft sollten werdende Eltern sich mit solchen Fragen auf die bevorstehende Geburt vorbereiten. Doch welche Punkte sind für die Geburtsvorbereitung wirklich wichtig und was können Sie getrost weglassen?

Gynäkologe Dr. med Wolf Lütje hat nach 40 Jahren als Geburtshelfer und dem Erfahrungsspektrum von über 60.000 Geburten dazu ein Buch geschrieben. In „Dein Geburtscoach“ steht die individuelle Situation jeder Gebärenden im Mittelpunkt. Denn eine gute Geburt sieht für jede Schwangere anders aus. Im Interview erläutert Dr. med Wolf Lütje deshalb, worauf Sie bei der Geburtsvorbereitung achten sollten.

sanego: Wie eine Frau ihr Kind gebären wird, ist unplanbar, nicht vorhersehbar und kaum kontrollierbar. Gibt es dennoch Dinge, die bei jeder Geburt gleich sind?

Dr. med Wolf Lütje: Nein, nichts ist gleich. Eine Frau die schon Kinder hat, hat zumindest einen Anhaltspukt und kann danach ihre Erwartungen ausrichten. Und trotzdem kann es ganz anders laufen. Das ist ja für viele auch das Problem. Bei großer Sehnsucht nach Kontrolle glauben Frauen, dass der Kaiserschnitt eine Lösung ist, dabei müssen sie bei der Sektio die Kontrolle zu 100 % abgeben. Für alle Probleme einer Geburt gibt es irgendeine Lösung. Also einfach drauf einlassen. Ein Weg findet sich beim Gehen.

sanego: Die meisten werdenden Mütter besuchen einen Geburtsvorbereitungskurs. Welche Aspekte, die dort nicht behandelt werden, sollten sie außerdem wissen?

Dr. med Wolf Lütje: Geburtsvorbereitung ist wichtig. Hier werden gute Informationen vermittelt. Die gelten aber nicht für jeden. Auch hier müsste mehr personalisiert werden. Aus meiner Sicht wäre es hilfreich, wenn jede Frau gecoacht würde – auf Basis ihrer Biographie, ihrem Mindset und ihren Ressourcen und Belastungen. Damit können ganz individuelle Konzepte erstellt werden. Da geht es um den richtigen Geburtsort und / oder Klinik, Geburtsmodus, den Geburtsplan, Kurse von Hypnobirthing und Beckenbodentherapie bis hin zur Psychotherapie.

Buchcover Der Geburtscoach
Buchcover Der Geburtscoach | © Kösel Verlag

Wie kann ein Geburtsplan aussehen?

sanego: Oft wird empfohlen einen Geburtsplan zu schreiben, damit die für die Schwangere wichtigen Punkte nicht vergessen werden. Halten Sie das für einen guten Weg?

Dr. med Wolf Lütje: Ja, wichtig – der Geburtsplan sollte aber auch ganz individuell entwickelt werden. Standards im Netz helfen da nicht weiter. Der Plan ist eine Orientierung, die Wünsche aber auch ganz klare Forderungen enthält. Und es braucht immer einen Plan B. Das ist manchmal schwer vermittelbar, dient aber dem Gefühl von Sicherheit und Mitbestimmung auch bei Unerwartetem, oft auch Unerwünschtem.

sanego: Was sollte so ein Geburtsplan beinhalten?

Dr. med Wolf Lütje: Die ganz eigenen Wünsche und Erwartungen in Bezug auf die Selbstbestimmung - die To-dos und Not-To-dos.  Wichtig ist, den Plan am Geburtsort durchzusprechen und auf die Machbarkeit zu prüfen. Sie sollten auch einen Plan B haben, falls etwas nicht geht oder gelingt oder sich der Rahmen geändert hat. Lesen Sie vorher Entscheidungshilfen oder Leitlinien, informieren Sie sich! Wichtig: schwingungsfähig bleiben. Wünschen ist unbegrenzt, aber nicht alles kann erfüllt werden. Selbstbestimmung ist das Höchstmaß an Mitbestimmung im Kontext einer Geburt, die unzählige innerer und äußere Fremdbestimmungen mit sich bringt.

Schlechte Erfahrungen und die Personalsituation

sanego: Vielen Frauen wird vor der Geburt eher Angst gemacht. Wie kann man Horrorgeschichten begegnen?

Dr. med Wolf Lütje: Erst mal klar machen, dass das was andere beschreiben oder angeblich erlebt haben, mit der eigenen Geburt nichts, aber auch gar nicht zu tun hat. Nichts ist vergleichbar oder lässt sich übertragen. Dann kann ich individuell auf die Ängste eingehen. z. B. durch ein Geburtscoaching. Problematisch ist die Grundangst, die uns die Bibel gemacht hat. Inzwischen hört man überall von Gewalt und Trauma in der Geburtshilfe. Das macht einen Nocebo-Effekt und schafft Misstrauen und eine Erwartungshaltung, genau das auch erleben zu müssen. Nicht selten kommt es dann zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wir müssen wieder Vertrauen gewinnen durch angepasste Strukturen und Inhalte. Dafür kämpfe ich im Unruhestand mit dem Buch und auf vielen anderen Bühnen.

sanego: Immer wieder lesen wir Nachrichten, dass Hebammen überlastet sind, weil es zum Beispiel viel zu wenige in Deutschland gibt. Wie können werdende Mütter sicher gehen, dass sie während der Geburt gut begleitet werden?

Dr. med Wolf Lütje: Sicher nie – es wird langsam besser - es kommen die ersten akademisierten Jahrgänge. Fragen Sie wie die Klinik ausgestattet ist und ob gerade viel los ist. Sorgen Sie vor durch Doulabegleitung oder Hebammenkreissaal oder Beleghebamme etc.

Dr. med Wolf Lütje

ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Ruhestand. Als solcher begleitete er über 40 Jahre Geburten, zuletzt bis 2021 in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Ev. Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg. Außerdem ist er Psychotherapeut (psychosomatisch), Buchautor, Gutachter und Dozent sowie Vater von sieben Kindern.

Geburtsort und Begleitung

sanego: Wie sehen Sie als Chefarzt den Trend, Doulas zur Begleitung der Geburt mit in den Kreißsaal zu bringen?

Dr. med Wolf Lütje: Doulas schließen die Betreuungslücke, entlasten Angehörige und Hebammen. In Amerika selbstverständlich, bei uns noch zum Teil neidvoll und skeptisch betrachtet. Ich habe gute Erfahrungen gemacht. Vielen Frauen tun sie gut und damit auch den Geburtsverläufen.

sanego: Sie haben als Facharzt und Chefarzt viele Geburten begleitet. Wo ist ihrer Meinung nach der beste Ort für eine Geburt, in der Klinik, im Geburtshaus oder zuhause?

Dr. med Wolf Lütje: Es gibt nicht die Geburt, sondern nur deine Geburt; es gibt nicht den Geburtsort, sondern nur deinen Geburtsort. Je nach Sicherheitsbedürfnis, Mindset, Selbstbestimmungswünschen, Biographie und Persönlichkeit, Belastungen, Ressourcen, Vorerfahrungen und vielem mehr wählt jeder seinen Geburtsort. Auch Frauen mit Alleingeburt haben aus ihrer Sicht gute Argumente. Wichtig ist, dass die freie Wahl bleibt, denn am falschen Ort zu gebären, kann in alle Richtungen gefährlich sein. Wichtig ist, jeden Ort für sich so sicher zu gestalten wie möglich. Das gilt für die Klinik wie für die Außerklinik. Und natürlich müssen wir die Qualität guter Geburtshilfe anders definieren und uns nicht nur auf das vordergründige physische Ergebnis stürzen, sondern auch das Geburtserleben einbeziehen, weil es das Leben einer Familie in ähnlicher Weise positiv aber auch negativ beeinflusst.

Ängste vor der Geburt

sanego: Welche Ängste begleiten werdende Mütter häufig? Und wie können sie damit umgehen?

Dr. med Wolf Lütje: Ängste beziehen sich auf das Kind und /oder eine Geburt nicht bewältigen zu können. Da braucht es fake- und mythenbereinigte Entscheidungshilfen. Frauen sind overnewsed und underinformed. Eine Herausforderung. Ängstliche sollten frühzeitig erfasst werden und die Hintergründe, und mögliche Lösungen offen diskutiert werden. Hierzu braucht es Vertrauen und psychologisch geschulte Geburtshelfer; und die Versicherung, Ängste ernst zu nehmen und Entscheidungen zu respektieren. Ziel muss sein, dass Frauen sich wenigstens auf den Weg machen wie immer er auch endet. Mitunter ist die Angst nur ein Scheinriese, der bei der Geburt ganz klein wird.

sanego: Viele Frauen, die das erste Mal gebären, haben großen Respekt vor der unbekannten Situation. Können Sie dennoch Einfluss nehmen, was im Notfall oder in schwierigen Situationen passiert?

Dr. med Wolf Lütje: Es gibt nur einen Notfall in der Geburtshilfe bei dem jede Sekunde zählt (vorzeitige Ablösung des Mutterkuchens). Da gibt es keine Diskussion. sonst immer! Ich kann also Frauen immer in Entscheidungen einbeziehen – ein wichtiger Faktor der Selbstbestimmung und des guten Geburtserlebens. Dabei kommt es selten auf das „Was“, sondern das „Wie“ an. Das gilt für die Kommunikation wie auch das geburtshilfliche Handeln. Solange niemand unnötig katastrophisiert, mit Drohungen Patientenrechte aushebelt und die Deutungshoheit beansprucht, gibt es informed choice und shared decision making. – auch im Notfall!!

sanego: Was hat werdenden Müttern während der Geburt ihrer Erfahrung nach außerdem geholfen?

Dr. med Wolf Lütje: Partner und Doula, das Kind, Selbstvertrauen, manchmal Hypnose, ja auch die PDA oder der Kaiserschnitt, ernst genommen werden, gut betreut werden, beteiligt werden, Kontrolle wiedergewinnen, und wenig Widersprüche und Bruchrillen im Betreuungsbogen.

Auch eine schwierige Geburt kann schön sein

sanego: Schwangeren Frauen werden oft Horrorgeschichten von Geburten erzählt. Haben Sie eine schöne Geburtsgeschichte, die sie dem entgegensetzen können?

Dr. med Wolf Lütje: Eine Frau erzählte mir nach Jahren von ihrer Traumgeburt an meiner Klinik. Sie bekam das 2. Kind. Es kam zum Nabelschnurvorfall und ich musste einen Kaiserschnitt machen. Das lief alles so ruhig und beteiligend ab – in Spinalanästhesie mit sofortigem Bonding und spätem Abnabeln, etc. Dass es gelingt eine absolute Notfallsituation so zu gestalten, dass die Frau von einer Traumgeburt spricht, hat mich und uns mit großer Freude und Stolz erfüllt.  Leider geht das nicht immer – aber öfter als die Meisten denken.

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Autoreninformation

Elisabeth Maußner, Medizinische Redakteurin

Elisabeth Maußner

Medizinische Redakteurin

Elisabeth Maußner ist studierte Journalistin und schreibt bei der ärzte.de MediService GmbH & Co. KG seit 2017 zu medizinischen Themen. Ihr Ziel: komplexe Zusammenhänge und wissenschaftliche Hintergründe einfach und für jeden verständlich auszudrücken. Die erfahrene Autorin hat bereits über 400 Artikel zu Gesundheits- und Medizinthemen verfasst, die u.a. auf aerzte.de, sanego.de und arzttermine.de veröffentlicht wurden.

Außerdem durfte sie Erfahrung beim Radio und beim Produzieren von Videos sammeln.

Persönlich interessiert sie sich insbesondere für Kinder- und Frauengesundheit, eine ausgewogene, intuitive Ernährung und die Digitalisierung im Gesundheitswesen.

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