Sie sind egoistisch, können nicht teilen und müssen auf eine einzigartige Geschwisterbeziehung verzichten. Das sind nur einige von vielen Annahmen, mit denen Ein-Kind-Familien konfrontiert sind. Dabei sind sie nach „Vater, Mutter, zwei Kinder“ die zweithäufigste Familienkonstellation in Deutschland.
Familien- und Stillberaterin Anna Hofer, fühlt sich als Einzelkind und als Einzelkind-Mama dennoch unterrepräsentiert, in der Gesellschaft und in der Literatur. Oft werden Einzelkinder nur nebenbei erwähnt, um dann auf Geschwisterkonstellationen einzugehen. Ihr Buch „Mein fabelhaftes Einzelkind“ aus dem Kösel-Verlag soll diese Lücke schließen.
Welche Nachteile haben Einzelkinder wirklich? Können Studien die Vorurteile bestätigen? Wie können Eltern mit Zweifeln umgehen, wenn Sie „nur“ ein Kind haben? Über diese Fragen haben wir mit Anna Hofer gesprochen.
sanego: Sie sind selbst Einzelkind und wollten auch immer nur ein Kind. Hatten Sie daran je Zweifel?
Anna Hofer: Nein, tatsächlich nie. Genauso wie manche das Bild von zwei oder drei Kindern vor Augen haben, wenn sie an ihre Zukunft denken, wusste ich, dass ich Mutter werden wollte. Und das von genau einem Kind.
Anna Hofer
begleitet seit über zehn Jahren Familien. Sie unterstützt im Alltag, in belastenden Situationen und im Umgang mit pädagogischen Einrichtungen. Schwerpunkte setzt sie dabei vor allem in der Kommunikation innerhalb der Familie und mit Menschen von außen. Als Stillberaterin steht sie Müttern zudem in der Stillvorbereitung, bei Stillproblemen und zum Abstillen zur Seite. „Mein fabelhaftes Einzelkind“ aus dem Kösel Verlag ist ihr zweites Buch nach „Bei meinem Kind mache ich das anders“ (Beltz, 2022).
sanego: Gibt es denn etwas, was Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch besonders überrascht hat?
Anna Hofer: Mir war klar, dass ich mein positives Erleben als Einzelkind und als Mutter eines Einzelkindes im Buch unterbringen möchte. Ein Stückweit auch als Bestärkung für Familien, die vielleicht nicht so sehr davon überzeugt sind. Ich wusste also, es gibt eine breite Palette an Gründen, warum Familien genau ein Kind haben. Was mich bei der Recherche aber überrascht hat, ist das Ausmaß des Themas Gender Disapointment, also den Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht, der nicht erfüllt wird. Tatsächlich gibt es Statistiken, die zeigen, dass wenn zwei Kinder desselben Geschlechts geboren werden, die Wahrscheinlichkeit für ein drittes Kind prozentual steigt; in der Hoffnung das Geschlecht zu bekommen, das sozusagen im Familienverbund fehlt.
Auch erschrocken hat mich bei der Recherche zum Buch, dass mit dem weiblichen Geschlecht sehr viele Erwartungen verknüpft sind, die ich persönlich in unserer aufgeklärten, feministischen Zeit als durchaus problematisch empfinde. Frauen und Mädchen sind immer noch in der Rolle der Kümmerin. Es gibt eine Statistik, die zeigt, dass Eltern eine größere Chance haben, lange zu Hause gepflegt zu werden, wenn wenigstens ein Mädchen in der Familie ist. Die Verantwortung für die alten Eltern, die Care Arbeit und der Mental Load, werden auf das Mädchen in der Familie übertragen. Das fand ich sehr bedenklich.
Vorteile, Nachteile und Vorurteile: Entwickeln sich Einzelkinder anders?
sanego: Was haben Sie denn über die Vorteile herausgefunden, die Einzelkinder in der Entwicklung haben?
Anna Hofer: Grundsätzlich kann man sagen, dass Einzelkinder ohne Einschränkungen Zugriff auf alle Ressourcen haben, die in einer Familie freigemacht werden können. Dazu gehört Zuneigung, die sie von den Eltern bekommen, aber auch die Begleitung bei den einzelnen Entwicklungsschritten, zum Beispiel der Übergang in den Kindergarten oder zur Schule. Eltern von Einzelkindern haben dafür oft einfach mehr Zeit. Auch Geldressourcen kommen zum Tragen, etwa bei Nachhilfe oder Hobbys, die ausprobiert werden können. Emotionale und finanzielle Ressourcen sind bei Familien mit einem Kind tatsächlich großzügiger vorhanden, als bei Familien mit mehreren Kindern.
sanego: Wie wirkt sich das genau auf die Entwicklung aus?
Anna Hofer: Eine Annahme bei Einzelkindern ist, dass sie sehr ich-bezogen sind, sich zu Egoisten oder sogar Narzissten entwickeln. Hierzu hat Professor Dr. Michael Duffner vor einigen Jahren eine große Studie konzipiert. Und diese hat das eindeutig widerlegt.
Eine Sache die Einzelkinder aber gut können, ist Zeit in Freundschaften zu investieren. Als ich das gelesen habe, konnte ich es sehr gut nachvollziehen. Sie haben kein Backup in Form von Geschwistern, mit denen sie mehr oder weniger freiwillig spielen. Einzelkinder haben dafür ein anderes Bewusstsein: Wenn ich mit jemandem Zeit verbringen möchte, dann muss ich Zeit in diese Freundschaft investieren. Das bedeutet ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, sich mit anderen Menschen und ihren Temperamenten auseinanderzusetzen, um langfristige freundschaftliche Bande zu knüpfen.
Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, Geschwister investierten keine Zeit in Freundschaften. Wenn überhaupt, lassen sich in Studien immer nur ganz geringe Unterschiede beobachten.
sanego: Bei Geschwisterkindern könnte es also sinnvoll sein, Freundschaften genauer im Blick zu behalten. Gibt es denn auch Defizite bei Einzelkindern, auf die Eltern achten können?
Anna Hofer: Wenn wir von Einzelkindern und Geschwisterkindern sprechen, dann schauen wir eher von oben drauf. Im Alltag sollten wir dagegen den einzelnen Menschen betrachten. Jeder bringt unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften mit. Ist ein Einzelkind introvertiert oder braucht etwas länger, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, dann sollte ich es als Elternteil etwas gezielter begleiten. Ich mache meinem Kind die Übergänge leichter, damit es gut ankommen kann.
Das hat aber wenig mit der Frage Einzelkind oder Geschwisterkind zu tun. Hier sprechen wir von Persönlichkeitsanteilen und Temperamenten, die jedes Kind individuell mitbringt.
sanego: Kann man denn im Erwachsenenalter noch erkennen, ob jemand Einzelkind oder Geschwisterkind war?
Anna Hofer: Man kann das nie erkennen, ob ein Mensch Einzelkind oder Geschwister ist, egal wie alt das Kind oder die Person ist.
sanego: Hat die Familienkonstellation also gar nicht die große Bedeutung, die wir ihr zugestehen?
Anna Hofer: Genau. Ich habe mit Prof. Dr. Julian Schmitz von der Uni Leipzig dazu gesprochen und er hat das sehr schön erklärt. Aufgrund unseres Schubladendenkens, das wir alle haben, ordnen wir eine Situation ein. Sehen wir zum Beispiel einen Menschen, der im Mülleimer nach Pfandflaschen sucht, denken wir „Der bekommt bestimmt Bürgergeld“. Die vielen Schubladen in unserem Kopf haben wir bewusst und unbewusst. Wenn wir Kinder in Situationen beobachten und wissen, ob sie Einzelkinder oder Geschwisterkinder sind, bewerten wir diese unterschiedlich; zum Beispiel bei einer Diskussion auf dem Spielplatz. Bei einem Geschwisterkind attestieren wir schnell Durchsetzungsstärke. Denn es musste lernen, sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. In der gleichen Situation attestieren wir Einzelkindern viel schnelle, sie könnten nicht teilen und müssten einen auf großen Macker machen. Diese Schubladen werden dem einzelnen Kind aber nicht gerecht.
Was hilft bei der Entscheidung Einzelkind oder Geschwisterkinder?
sanego: Welche Punkte können denn dann bei der Entscheidung als Familie helfen, ob ich besser bei einem Einzelkind bleibe oder noch ein Geschwisterkind bekomme?
Anna Hofer: Ich lege mich hier nicht fest. Man kann hier kein Optimum erreichen. Entscheiden wir uns dazu, Eltern zu werden, spüren wir schon im ersten Jahr, wie sehr das an unseren persönlichen Ressourcen zerrt. Unsere Vorstellung, wie es sein wird, mit Kindern zu leben und die erlebte Realität liegen nicht selten weit auseinander. Die Ressourcen für mehrere Kinder mit unterschiedlichen Temperamenten muss man erst mal haben. Kein Kind, das geboren wird, läuft einfach mit. Jedes Kind möchte es selbst sein, möchte seinen Platz haben und gesehen werden. Ich finde es wichtig, sich als Eltern bewusst zu machen: Habe ich diese Ressource für ein weiteres Kind oder weitere Kinder? Habe ich die Muße, die Kraft, den Willen und die Begeisterung mehre Kinder tagtäglich zu begleiten?
Was hilft, wenn sich der Wunsch nach einem weiteren Kind nicht erfüllt?
sanego: Die Ein-Kind-Familie ist ja nicht immer eine freiwillige Entscheidung, darauf gehen Sie in Ihrem Buch auch genauer ein. Haben Sie denn Tipps, wie ich damit umgehen kann, wenn ich „unfreiwillig“ Einzelkind-Elternteil bin?
Anna Hofer: Einzelkindern entsteht nicht per se ein Nachteil und es nicht grundsätzlich ein Mangel, ohne Geschwister zu sein. Das ist die entlastende Botschaft meines Buches. Dennoch sollten wir als Gesellschaft die Trauer, die vielleicht damit einhergeht, ernst nehmen und nicht kleinreden. Viele Eltern erwischt es eiskalt, dass sich die persönliche Familienplanung nicht erfüllt. Das ist ein wirklicher Schock, der auch betrauert werden darf. Ich halte grundsätzlich nie etwas davon, egal in welcher Situation, Familien zu sagen: „Ist doch nicht so schlimm, ihr habt doch ein gesundes Kind“. Der Schmerz und die Trauer darüber verändern sich von Tag zu Tag, Woche zu Woche und Monat zu Monat und dem sollten Sie auch Raum geben.
Es kann zum Beispiel helfen, bewusst Social Media Pausen einzulegen, wenn Sie merken, dass Ihnen Bilder von Babybäuchen und Babyausstattung gerade nicht guttun. Machen Sie sich die Zeit schön und genießen Sie das Familienleben bewusst. Es geht nicht darum, krampfhaft zu sagen „Sei glücklich mit dem, was du hast“. Aber sich darauf zu fokussieren, kann tatsächlich helfen, mit diesem Schmerz, den Sie gerade besonders stark verspüren, besser umzugehen.
sanego: Alle Einzelkind-Eltern kennen sicher die Frage „Wann kommt denn bei euch das Zweite?“ Haben Sie eine Standardantwort, die Sie darauf geben können?
Anna Hofer: Ich hoffe immer, wenn bekannt ist, wie herausfordernd der Weg zum ersten Kind war, dass die Menschen von solchen Fragen absehen. Aber es gibt ja auch Bekannte und Begegnungen, die nicht davon wissen oder Familien, die sich aus anderen Gründen gegen ein zweites Kind entscheiden. Die Frage nach einem weiteren Kind kommt oft so selbstverständlich und unverblümt, dass sie viele Eltern erst mal überrumpelt. Doch ich halte nichts davon, sich zu rechtfertigen, ob nun mit einem Kind oder mit drei, vier oder fünf. Man kann einfach sagen: „Das kommt für uns im Moment nicht infrage“ oder „Darüber haben wir noch nicht nachgedacht.“
Und ganz ehrlich, wenn Sie dann in eine Diskussion verwickelt werden, dann würde ich ganz klar sagen: „Ich möchte darüber nicht sprechen. Meinen Standpunkt hast du schon gehört.“ Natürlich kommt es vor, dass sich das Gegenüber dann seinen Teil denkt. Das kann belastend sein. Es sollte aber kein Grund sein, sich emotional blank zu machen. Ich vergleiche das immer mit einer Nachfrage zum Partner. Würde Sie jemand darauf ansprechen, ob Ihr Partner/Ihre Partnerin wirklich der oder die Richtige ist und ob Sie sich mit der Entscheidung sicher sind, würden Sie vermutlich sehr schnell auf die Grenzen eines solchen Gesprächs verweisen. Ich glaube, wenn Sie dieses Bild in Smalltalk-Situationen mitnehmen, kann das helfen, eine emotionale Grenze zu setzen.