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Wie kann ich mein inneres Kind heilen? Psychologin Stefanie Stahl im Interview

Von: Tamara Todorovic

Veröffentlicht: 07.08.2024

Lesezeit: 8 Min.

Familie | Patientenwissen | Psychologie

Eine tätowierte Frau vor grauem Hintergrund. Sie lächelt mit geschlossenen Augen und umarmt sich selbst.
Als Erwachsene können wir uns die Liebe schenken, die wir in unserer Kindheit vermisst haben. | © Mediaphotos - stock.adobe.com

Ob extrovertiert oder introvertiert: Menschen sind von Grund auf soziale Wesen. Wir alle sehnen uns nach Zugehörigkeit, Liebe und Bindung. Doch leider hatten manche von uns keine einfache Kindheit und durften so nie erfahren, was es heißt, bedingungslos geliebt zu werden. Die Folge: Wir entwickeln nicht das nötige Urvertrauen, das es braucht, um als Erwachsene gesunde und glückliche Beziehungen führen zu können.

Doch können wir unser inneres Kind auch im Erwachsenenalter heilen? Psychologin und Erfolgsautorin Stefanie Stahl weiß die Antwort. Im Interview verrät sie uns, wie wir negative Glaubenssätze erkennen, unser Erwachsenen-Ich stärken und unseren kindlichen Anteilen in uns mitfühlend begegnen können.

Das psychologische Konzept "inneres Kind"

sanego: Eines ihrer erfolgreichsten Bücher thematisiert das psychologische Modell „inneres Kind“. Was hat es damit auf sich und wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Stefanie Stahl: Das innere Kind ist ja ein bewährtes psychologisches Konzept, mit dem viele Psychotherapeuten gerne arbeiten. Eines Tages kam eine Klientin, Sarah, zu mir. Sie sagte: „Frau Stahl, ich würde heute gerne etwas ganz Konkretes machen!“ Da hörte ich mich selber sagen: „Dann nehmen wir jetzt mal einen Stift und einen Zettel und Sie zeichnen mal die Silhouette eines Kindes auf das Papier.“ Dann sollte sie Mama und Papa neben den Kopf des Kindes notieren und stichwortartig aufzählen, wie ihre Eltern so drauf gewesen sind. Im Bauchraum dieses Kindes sollte sie dann notieren, welche tiefsten inneren Glaubenssätze sie in ihrer Kindheit erworben hat. Sie notierte „Ich genüge nicht.“ und „Ich muss funktionieren.“. Dann fragte ich sie: „Und welches Gefühl löst das bei Ihnen aus?“ Und sie sagte: „Es zieht mich runter und macht mich traurig.“

Auch das sollte sie in den Bauchraum dieser Kindersilhouette notieren. Dann fragte ich sie: „Was machen Sie denn so, damit Sie Ihre Glaubenssätze möglichst nicht fühlen und damit andere Leute nicht merken, dass Sie nicht genügen?“ Und sie sagte: „Ich versuche, alle Erwartungen zu erfüllen und möglichst perfekt zu sein.“ Ich forderte sie auf, diese Selbstschutzstrategien außerhalb des Fußraums vom Kind zu notieren. Als sie dieses Bild dann sah, fing sie an zu weinen und sagte: „Ja, genau. Das bin ich. So funktioniere ich.“ Und ich dachte: „Mensch, das war ja eine richtig coole Übung!“

sanego: Beim inneren Kind unterscheiden Sie zwischen dem sogenannten „Sonnenkind“ und „Schattenkind“. Was genau ist damit gemeint?

Stefanie Stahl: Später nannte ich diesen ersten Schritt vom inneren Kind das Schattenkind. Das Schattenkind symbolisiert, was in der Kindheit nicht so gut gelaufen ist und wo wir negative Glaubenssätze erworben haben. So wie Sarah. Diese Glaubenssätze müssen nicht ausschließlich auf die Eltern zurückgehen, sondern an ihnen können auch Geschwister, Lehrer usw. mitwirken. Der Übung mit dem Schattenkind habe ich die Übung mit dem Sonnenkind hinzugefügt.

Das Sonnenkind steht für unsere gesunden Anteile und was alles gut gelaufen ist früher. Außerdem symbolisiert es den Zielzustand, denn heute sind wir erwachsen und können viele Einstellungen, Glaubenssätze und Verhaltensweisen positiv verändern. Während das Schattenkind ein eher trauriges Bild ist, geht es beim Sonnenkind richtig bunt zu. Hier werden Selbstwert stärkende, aber realistische Glaubenssätze notiert. Die guten Gefühle, die sie hervorrufen und anstatt der Schutzstrategien werden Schatzstrategien entwickelt. Schatzstrategien sind konstruktive, förderliche Verhaltensweisen.


Sarah notierte beispielsweise als Schatzstrategien: „Ich beende eine Aufgabe, wenn ich sie gut gemacht habe. Perfekt muss es nicht sein.“ Als weitere Schatzstrategie notierte sie, dass sie „Nein“ sagt, wenn sie „nein“ meint und „ja“ sagt, wenn sie „ja“ meint, also dass sie sich darin übt, sich auf gesunde Weise abzugrenzen.

Stefanie Stahl

ist Psychologin, Bestseller-Autorin, Speakerin und Podcasterin. Die gebürtige Hamburgerin arbeitet als Psychotherapeutin in freier Praxis in Trier. Zudem bietet sie (Online-)Seminare rund um ihre Kernthemen Bindungsangst und Selbstwertgefühl an.

sanego: In Ihrem Podcast „Stahl aber herzlich“ sprechen Sie in diesem Kontext oft von Ihrem Mantra „ertappen und umschalten“. Können Sie unseren Lesern und Leserinnen erklären, wie die mentale Übung funktioniert?

Stefanie Stahl: Wenn ich mein Störprogramm, das 90 % meiner Probleme verursacht, klar in Form des Bildes von meinem Schattenkind vor mir liegen habe, dann weiß ich genau, was meine Triggerpunkte sind. Jetzt kommt es darauf an, dass ich mich im Alltag auch dabei ertappe, wenn ich wieder drohe in mein Schattenkind abzurutschen.


Wenn Sarah beispielsweise merkt, dass sie wieder reflexartig „ja“ sagen will, obwohl sie eigentlich „nein“ meint, dann muss sie sich in diesem Moment ertappen. Und dann schaltet sie um auf ihr Erwachsenen-Ich. Dieses symbolisiert ihren klardenkenden Verstand. Vom Verstand aus kann sie erkennen, dass die äußere Situation harmlos ist und sie natürlich ein Recht hat, so wie alle anderen Menschen auch, für ihre Bedürfnisse einzustehen. Vom erwachsenen Standpunkt aus weiß sie auch, dass keine Information verloren geht, wenn sie etwas freundlich sagt. Folglich sagt sie beispielsweise ihrer guten Freundin, dass es ihr leidtue, aber sie es wirklich nicht schaffen würde, zu ihrem Kindergeburtstag noch einen selbstgebackenen Kuchen beizutragen.

Wie können wir unser inneres Kind heilen?

sanego: Uns bewusst dabei zu ertappen, wann wir wieder in unser Schattenkind abrutschen, ist sicher hilfreich. Doch wie können wir unser inneres Kind heilen?

Stefanie Stahl: Der wichtigste Schritt ist, dass wir anerkennen, dass diese schmerzlichen Gefühle in uns vorhanden sind. Viele Menschen sind Weltmeister im Verdrängen und schieben alles, was wehtun könnte, beiseite. Dann kann es aber auch nicht verarbeitet und geheilt werden. Der zweite Schritt ist, dass man ein gewisses Selbstmitgefühl für sich und seine Erfahrungen aufbringt. Und dann ist es ganz wichtig, dass man lernt, die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden.

Wenn meine Eltern überfordert gewesen sind, mir die Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken, die ich benötigt hätte, so ist doch vollkommen klar, dass meine Glaubenssätze völlig willkürlich sind. Wären meine Eltern oder andere Bezugspersonen weniger überfordert gewesen, dann hätte ich jetzt nämlich ganz andere und vermutlich positive Glaubenssätze. Also höre ich auf, mich mit meinen negativen Glaubenssätzen zu identifizieren und gebe sie meinen Eltern auf eine freundliche Art und Weise zurück. Manche Menschen mögen aber über diese Brücke nicht gehen, weil ihre gefühlte Loyalität zu ihren Eltern so stark ist.

Unbewusst halten sie also lieber an ihren negativen Glaubenssätzen fest, als sich einzugestehen, dass es wirklich manchmal nicht so leicht gewesen ist mit Mama und Papa. Für eine gesunde Lösung benötige ich aber diesen Schritt.

Es ist wirklich wichtig, sich klar zu machen, dass alle Kinder gut und völlig richtig auf die Welt kommen und es in der Verantwortung der Eltern liegt, ihnen dieses Gefühl auch zu vermitteln - und nicht in der Verantwortung der Kinder, sich so zu verhalten, dass die Eltern sie liebhaben können.

Das hat nichts mit Eltern-Bashing zu tun. Es geht nur einfach darum, dass unsere Eltern ganz wesentlich über unsere innere Gehirnprogrammierung bestimmen, weil sich unser Gehirn gerade in jungen Jahren sehr stark entwickelt.

sanego: Müssen wir unseren Eltern vergeben, um zu heilen?

Sefanie Stahl: Nein, wir müssen unseren Eltern nicht vergeben, um zu heilen. Wenn es den Eltern nicht gelingt, ihre Kinder hinreichend liebevoll zu begleiten, dann übernimmt automatisch das Kind dafür die Verantwortung, dass seine Beziehung zu seinen Eltern gelingt. Es wird sich so verhalten, dass die Chancen möglichst hoch sind, dass seine Eltern es liebhaben oder zumindest nicht bestrafen.

Wenn ich mich von einer schwierigen Kindheit lösen möchte, benötige ich erstmal so etwas wie Trennungsaggression, indem ich auch ruhig wütend sein darf und denke: „Da habt ihr manchmal ganz schön Mist gebaut!“ Wenn man diesen Schritt überspringt und sofort verzeiht, übernimmt man wieder die Verantwortung dafür, dass die Beziehung zu den eigenen Eltern möglichst nicht belastet wird. Die Wut muss vor dem Verzeihen kommen. Und manchmal geht ein Verzeihen auch nicht, weil die Eltern wirklich schlimm waren. Dann ist das auch völlig in Ordnung.

Zusammenhang zwischen Bindungsstil und Kindheit

sanego: Inwiefern beeinflussen Kindheitsprägungen die Beziehungen zu unseren Mitmenschen?

Stefanie Stahl: Unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen werden massiv durch unser inneres Kind beeinflusst. Wenn ich grundsätzlich das Gefühl habe, ich würde nicht genügen, dann projiziere ich leicht in andere Menschen eine gewisse Überlegenheit hinein. Sarah hat dies sehr häufig getan und sich deswegen über die Maßen an die Bedürfnisse anderer Menschen angepasst. Sobald sie sich auf Augenhöhe begibt, weil sie ihr inneres Kind heilt, kann sie sich viel freier entscheiden und auf eine gesunde Art und Weise abgrenzen.

Verkürzt kann man sagen, dass wir die Welt häufig durch die Brille unserer Glaubenssätze wahrnehmen. Sind die Glaubenssätze nicht gesund und dysfunktional, ist es ganz wichtig, diese zu verändern, um somit meine Beziehung zu mir selbst und hierdurch auch zu anderen Menschen zu verändern. Denn mein Selbstbild bestimmt darüber, was ich von anderen Menschen erwarte.

sanego: Ist unser Bindungsstil in Stein gemeißelt? Können wir ihn im Laufe unseres Lebens verändern?

Stefanie Stahl: Nein, unser Bindungsstil ist nicht in Stein gemeißelt, wenn er allerdings auch häufig über die Lebensspanne stabil bleibt. Insbesondere negative Erlebnisse im Erwachsenenleben, wie beispielsweise traumatische Erfahrungen, können den Bindungsstil in eine negative Richtung verändern. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass man besonders sichere und gute Beziehungserfahrungen im Erwachsenenalter macht und sich hierdurch ein anfänglich unsicherer Stil in einen sicheren Bindungsstil verwandelt.

sanego: Wem würden Sie abschließend empfehlen, sich mit seinem inneren Kind genauer zu beschäftigen?

Stefanie Stahl: Ich würde jedem Menschen empfehlen, sich mit seinen frühen Prägungen zu beschäftigen, weil diese unser Gehirn sozusagen formatieren. Bin ich mit diesen Gefühlen, Glaubenssätzen und Verhaltensweisen komplett identifiziert, dann bin ich quasi der Sklave oder die Sklavin meines Gehirns. Deswegen lohnt es sich immer genauer hinzugucken, welche Programme und mithin auch möglichen Fehlprogrammierungen ich aufgrund der Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin, erhalten habe. Dann besteht eine sehr gute Chance, mich von jenen Mustern zu trennen, die mich immer wieder in gewisse emotionale Sackgassen laufen lassen bzw. zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führen.

Autoreninformation

Tamara Todorovic

Medizinische Redakteurin

Tamara Todorovic studierte Germanistik und English & American Studies. Während dieser Zeit arbeitete sie beim Jugendmagazin des Franken Fernsehens, einem Hörfunksender der Mediaschool Bayern, sowie Deutschlands führendem Medienunternehmen für Gaming- und Hardware-Trends.

Anschließend absolvierte sie ihr Volontariat bei unternehmer.de. Seit April 2021 ist sie bei der ärzte.de MediService GmbH & Co. KG, zu der sanego.de gehört, als Medizinische Redakteurin tätig und auch für den Bereich Content Commerce zuständig.

Während Tamaras Schulzeit im sozialen Zweig einer Fachoberschule kristallisierte sich ihr Interesse für Psychologie und Pädagogik heraus. Ihre schulischen Praktika absolvierte sie in einem Autismus-Zentrum, in den Dr. Erler Kliniken Nürnberg, bei der Nürnberger Tafel, in Kindergärten sowie in einem Pflegeheim. Ihr fachliches Wissen sowie diese Praxiserfahrung im sozialen Bereich gibt sie am liebsten in Artikeln rund um das Thema mentale Gesundheit zum Besten.

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