Ob morgens beim Aufstehen oder abends im Bett: Im Kopf jonglieren Sie ständig Aufgaben, Ideen und Termine. Diese Belastung nennt man auch Mental Load; also eine mentale Last, die zwar nicht sichtbar ist, aber viel Kraft kostet. Für viele wird diese Belastung zu groß. Patricia Cammarata, die den Begriff Mental Load in Deutschland bekannt machte, schildert das so:
"Wenn ich mich hier kurz auf den Asphalt lege – nur zehn Minuten -, dann geht es mir bestimmt besser. "
Patricia Cammarata in „Raus aus der Mental Load Falle“
Diese bleierne Müdigkeit, die sie jeden Tag auf ihrem Arbeitsweg erfasste, führte sie später auf den Mental Load zurück, den sie zu dieser Zeit tragen musste. Damit ebnete sie den Weg für andere, die eigenen Belastungen zu hinterfragen.
Sara Pierbattisti-Spira, bekannt als brombeermama, ist eine davon. Als Mentalload-Expertin begleitet sie Eltern auf dem Karriereweg nach der Elternzeit. Ein großes Thema dabei sind auch die vielen Aufgaben und Verpflichtungen, die organisiert werden müssen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Katharina Wick hat sie ein Buch dazu geschrieben. „Freier Kopf statt Mental Load“ versammelt viele Tipps und Ansätze, wie Sie, als Betroffene(r), die tägliche Last verringern können.
Wo Sie dabei am besten anfangen und warum Unterstützung nicht alles lösen kann, hat Sara Pierbattisti-Spira uns im Interview erklärt.
sanego: Mental Load, mit diesem Begriff können viele nach wie vor wenig anfangen. Gibt es dafür einen deutschen Begriff oder ein Bild, das jede(r) verstehen kann?
Sara Pierbattisti-Spira: Gemeint sind die unsichtbaren Tausend Kleinigkeiten, die im Hintergrund ablaufen, damit der Alltag funktioniert. Stellen Sie sich einen Rucksack vor, der gefüllt ist mit vielen kleinen Steinen. Jeder einzelne für sich ist nicht schwer, so wie die alltäglichen Aufgaben – ein Arzttermin hier, ein Geschenk für den Kindergeburtstag da, die Erinnerung an den Elternabend, wer bestellt den Handwerker für den tropfenden Wasserhahn. Obwohl Sie die Aufgaben abarbeiten, kommen Tag für Tag neue Steine dazu. Man trägt sie ständig mit sich herum – auch wenn man gerade nichts davon aktiv erledigt. Dass der Rucksack zu schwer ist, merken wir oft erst spät. Die Last kommt leise, sie ist unsichtbar und das macht Mental Load zu tückisch.
sanego: Gibt es Mental Load schon immer oder sind die Ansprüche und Belastungen an den oder die Einzelne(n) mehr geworden?
Sara Pierbattisti-Spira: Der Begriff Mental Load stammt ursprünglich aus der Arbeitspsychologie der 1970er-Jahre, wurde aber erst in den letzten Jahren auf die Organisation von Alltag und Familie übertragen. Und da passt er perfekt. Denn die Anforderungen sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen: Viele jonglieren heute mehrere Rollen und Erwartungen gleichzeitig. Immer häufiger arbeiten beide Elternteile, während flexible Jobmodelle die Grenze zwischen Beruf und Privatleben verschwimmen lassen. Dazu kommen die ständige Informationsflut und Erreichbarkeit, die unseren Alltag komplexer macht. Und wenn dann noch Kita-Notbetreuung, Unterrichtsausfälle oder der gesellschaftliche Druck – nicht zuletzt durch Social Media – dazukommen, geraten viele Familien ins Straucheln.
Wie können Sie den Mental Load verringern?
sanego: Beim Mental Load geht es viel um Aufgaben und To-dos. Können Selbstorganisation und Zeitmanagement-Tools die Last verringern?
Sara Pierbattisti-Spira: Die gute Nachricht: Es gibt bewährte Werkzeuge, die Ordnung in den Kopf bringen – vom Prioritäten setzen über Aufbau von Routinen zu cleveren Apps. Die Denkarbeit lässt sich so spürbar reduzieren. Aber: So hilfreich diese Tools auch sind, sie lösen das Grundproblem nicht. Denn die Last ist schlicht zu groß, um sie allein zu tragen. Deshalb geht es auch darum, Verantwortung zu teilen, Dinge bewusst liegenzulassen und unsere eigenen Ansprüche und Perfektionsideen kritisch zu hinterfragen.
sanego: Was sind die ersten Schritte, wenn ich den Mental Load angehen möchte?
Sara Pierbattisti-Spira: Viele starten damit, dass sie sich bei der Abarbeitung der Aufgaben noch mehr anstrengen. Doch der erste Schritt sollte immer erstmal sein, sich einen Überblick zu verschaffen. Machen Sie sichtbar was Sie mental beschäftigt und schreiben Sie alles auf. Erst dann können Sie verstehen, wo die Belastung herkommt. Das ist auch die Grundlage für ein Gespräch mit dem Partner, der Partnerin, Familie oder dem Umfeld darüber, wie diese Verantwortung gerechter verteilt werden kann. Allein das Sichtbarmachen anhand einer Liste ist oft schon ein Aha-Moment. Wenn die Aufgaben verteilt sind, geht es darum, die eigenen To-dos effizient zu organisieren und schlichte Abläufe und Strukturen zu finden – damit die Last wirklich auf mehreren Schultern bleibt.
ist Elterncoach und unterstützt vor allem Mütter beim Wiedereinstieg nach der Elternzeit. Als brombeermama berichtet sie in ihrem Blog und auf Social Media außerdem über ihre Erfahrungen zum Elternsein, strukturelle Probleme und gibt Tipps für den Alltag. Zusammen mit Prof. Dr. Katharina Wick hat sie das Buch „Freier Kopf statt Mental Load“ veröffentlicht.
Unterstützung von außen ist oft der Schlüssel
sanego: Ist es denn wirklich hilfreich, die Last einfach an jemanden weiterzugeben?
Sara Pierbattisti-Spira: Hilfreich ist es dann, wenn die andere Person die Aufgabe wirklich komplett übernimmt – mit allem, was dazugehört: planen, entscheiden, ausführen. Wenn der Vater das Kind zum Arzt oder zur Ärztin begleitet, gehört dann auch dazu den Termin zu vereinbaren, den Impfpass mitzunehmen und das Kind für den Zeitraum in der Betreuung abzumelden.
Selbst bei gleich langen Arbeitszeiten übernehmen Mütter immer noch den Großteil der Haus- und Familienarbeit. Und das meiste davon bleibt unsichtbar. Deshalb entlastet es nur dann wirklich, wenn Verantwortung geteilt wird – nicht, wenn die Person, die die Aufgabe weitergibt trotzdem mitdenken muss.
Zur Realität gehört aber auch, dass oft selbst die geteilte Last zu viel ist. Deswegen lohnt es sich, die eigenen Ansprüche kritisch zu hinterfragen und bewusst auch mal Dinge sein zu lassen. Nicht alles muss perfekt oder sofort erledigt werden.
sanego: Was ist, wenn es in meinem Umfeld keine Person gibt, die etwas übernehmen kann?
Sara Pierbattisti-Spira: Das ist die Realität für viele – etwa Alleinerziehende oder Familien mit wenig Unterstützung im Umfeld. Dann wird es umso wichtiger, die vorhandenen Ressourcen bewusst einzusetzen: zum Beispiel über Kita und Hort, Babysitter, Familienhilfen oder eine Haushaltshilfe, wenn das möglich ist. Ebenso wertvoll ist es, im eigenen Alltag Prioritäten zu setzen: Welche Aufgaben sind wirklich wichtig – und was darf auch mal liegen bleiben? Denn Entlastung bedeutet nicht nur, Verantwortung zu teilen, sondern auch zu akzeptieren, dass nicht alles gleichzeitig perfekt laufen kann.
Mental Load loslassen ist gar nicht so leicht
sanego: Wie kann ich mit der Angst vor Veränderung und dem Kontrollverlust umgehen?
Sara Pierbattisti-Spira: Kontrolle abzugeben fühlt sich erst mal unsicher an – gerade, wenn man es gewohnt ist, alles im Blick zu haben. Ich empfehle, klein anzufangen: eine Aufgabe loslassen, beobachten, wie es läuft, und Vertrauen wachsen lassen. Der Impuls sich doch einzumischen und zu kontrollieren kann stark sein. Darin liegt die Herausforderung. Und auch darin, Fehler am Anfang zu akzeptieren. Sie gehören dazu und sie sind Lernmomente. Mit jeder Erfahrung wird es hoffentlich leichter.
sanego: Wie finde ich Zeit für Pausen und zum Entspannen?
Sara Pierbattisti-Spira: Pausen sind kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis. Trotzdem warten viele von uns auf den richtigen Moment – aber der kommt im Alltag selten. Deswegen rate ich dazu, Pausen aktiv einzuplanen und sie fest im Kalender zu notieren. Pausen dürfen auch klein sein. Schon ein Lieblingsgetränk auf dem Balkon, ein paar Minuten Bewegung oder eine kleine Achtsamkeitsübung können den eigenen Akku wieder aufladen. Es hilft, eine persönliche Ideenliste zu erstellen, auf die man zurückgreifen kann, damit wir kleine Zeitfenster wirklich für uns nutzen, statt sie wieder mit etwas vermeintlich nützlichem oder gar mit endlosem Scrollen zu füllen.
Weniger Mental Load ist möglich
sanego: Kann ich den Mental Load denn wirklich loswerden?
Sara Pierbattisti-Spira: Ganz ehrlich: Ganz loswerden werden wir den Mental Load wohl nie. Alltag bedeutet immer auch Aufgaben, Verantwortung und neue Überraschungen. Aber wir können ihn deutlich leichter machen. Indem wir sichtbar machen, was uns beschäftigt, Verantwortung teilen, einfache Strukturen aufbauen – und uns erlauben, manches bewusst nicht zu tun. Es geht also nicht darum, ein Leben ganz ohne Mental Load zu führen, sondern eins, in dem die Last uns nicht erdrückt.
sanego: Haben Sie zum Abschluss noch einen Tipp zum Mental Load, den jede(r) wissen sollte?
Sara Pierbattisti-Spira: Sie sind nicht allein. Viele Menschen – vor allem Eltern – fühlen sich mit dem Mental Load isoliert und denken, sie seien selbst schuld. Dabei liegt der Grund für die Überlastung selten bei uns, sondern an den Strukturen und Erwartungen, in denen wir leben. Die können wir nicht immer sofort ändern – aber wir können entscheiden, wie wir mit der Last umgehen. Darüber zu sprechen kann schon einen Unterschied machen und auch kleine Veränderungen können den Alltag spürbar erleichtern.
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