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/ Hilfe, mein Kind ist krank! Was Eltern zu Kindergesundheit und Notfällen wissen sollten. Kinderarzt Dr. Oliver Harney im Interview

Hilfe, mein Kind ist krank! Was Eltern zu Kindergesundheit und Notfällen wissen sollten. Kinderarzt Dr. Oliver Harney im Interview

Von: Elisabeth Maußner

Veröffentlicht: 16.06.2025

Lesezeit: 8 Min.

Patientenwissen | Behandlung | Tipps

Drei Stühle im Wartezimmer: Links eine rote Erste-Hilfe-Tasche, mittig ein Teddybär mit Pflaster auf dem Kopf und Spritze am Bein, rechts ein Stofflöwe mit verbundener Pfote.
Bei welchen Erkrankungen und Unfällen sollten Sie sich mit Ihrem Kind wirklich ins Wartezimmer setzen? | © exclusive-design - stock.adobe.com

Ob Fieberkrampf oder Mittelohrentzündung, Platzwunde oder Dreitagefieber – jedes Kind kommt früher oder später mit einem „Notfall“ zum Arzt bzw. zur Ärztin. Doch wann können Eltern abwarten und wann braucht es schnell ärztliche Hilfe?

Kinderarzt Dr. Oliver Harney hat dazu zusammen mit Sketchnoterin Nadine Roßa ein Buch geschrieben. In „Müssen wir damit zum Arzt?“ zählt er die wichtigsten Kinderkrankheiten und Notfälle auf – vom Baby bis in die Teenagerzeit.

Wie sich Eltern auf kranke Kinder und Unfälle vorbereiten können und was Sie zu Kindergesundheit und Arztbesuchen wissen sollten, hat Dr. Oliver Harney bei uns im Interview erklärt.

sanego: Welche Erkrankungen und Notfälle begegnen Ihnen in der Praxis am häufigsten?

Dr. Oliver Harney: Es sind die Banalitäten der Kindergartenerkrankungen: Halsweh, Husten, Fieber. Bei Älteren gerne auch Bauch- und Kopfweh. In aller Regel stecken dahinter virale Erkrankungen, die ohne großes Dazutun wieder ausheilen. Unsere Aufgabe ist es, Komplikationen wie eine Bronchitis oder Lungenentzündung oder einen hohen Flüssigkeitsverlust bei Magen-Darm-Erkrankungen zu erkennen.

Echte Notfälle sind in der Praxis selten. Vielleicht ein Kindergartenunfall, ein Asthma-Anfall oder ein sehr kleiner Säugling mit hohem Fieber.

So bereiten sich Eltern und Bezugspersonen auf kranke Kinder und Unfälle vor

sanego: Wie können sich Eltern darauf vorbereiten?

Dr. Oliver Harney: Wichtig ist, dass Eltern entspannt bleiben, was die Erkrankungen ihrer Kinder angeht. Es ist die Aufgabe von Mutter und Vater sich Sorgen zu machen, keine Frage, aber wirklich gefährlich sind die meisten Alltagserkrankungen nicht. Es ist in der Regel gerechtfertigt, den Selbstheilungsprozess von ein paar Tagen abzuwarten.

Es gibt gute Bücher auf dem Markt, die die wichtigsten Erkrankungen im Kindesalter kurz und knapp erläutern, worauf man achten muss und wann man wirklich eine Ärztin oder einen Arzt braucht. Der eigene Kinder- und Jugendarzt beantwortet auch gerne Fragen, dafür sind wir da. So lernen Eltern „fürs nächste Mal“.

sanego: Welche drei Sofortmaßnahmen sollte jede(r) kennen, der oder die mit Kindern Kontakt hat?

Dr. Oliver Harney: Bei Nasenbluten den Kopf nach vorne halten, nie nach hinten, und ein dunkles Handtuch vorhalten, dann erschrickt das Kind nicht so sehr wegen des Blutes.

Bei einem Pseudokrupp (ein gemeiner Husten aus dem Kehlkopf, mitten in der Nacht) sich erstmal mit dem erkrankten Kind für eine halbe Stunde auf den Balkon setzen.

Bei Verbrühungen oder Verbrennungen: Mit lauwarmem Wasser die betroffene Stelle begießen und damit kühlen, kein eiskaltes Wasser oder Eiswürfel benutzen. Nie irgendwas auf die Wunde schmieren!

Dr. Oliver Harney

ist Kinder- und Jugendarzt mit eigener Praxis in Baden-Württemberg. Seit vielen Jahren berichtet er auf seinem eigenen Blog als „kinderdok“ aus seinem Praxisalltag und über Kindergesundheit. Außerdem hat er eine Kolumne im Berliner Tagesspiegel. 2025 erschien sein erstes Buch „Müssen wir damit zum Arzt?“.

Hausapotheke, Placebos, Hausmittel - Das sollten Sie für den Notfall zuhause haben

sanego: Was gehört in die Hausapotheke für Kinder?

Dr. Oliver Harney: Fiebermittel als Zäpfchen oder Saft (Ibuprofen und Paracetamol), abschwellende Nasentropfen, ein Fieberthermometer, ein kleiner Satz Verbandsmaterial (z. B. aus einem abgelaufenen Autoverbands-Set), Sonnenschutzmittel, etwas gegen Mückenstiche, ein Coolpack für Prellungen und Beulen, Gummibärchen.

sanego: Wie stehen Sie zu „Placebos“ wie Pflastern gegen Mückenstiche oder TicTacs bei leichten Halsschmerzen?

Dr. Oliver Harney: Die besseren Placebos sind das Pusten über Wunden oder die Spucke auf Mückenstiche (die haben nämlich tatsächlich einen medizinischen Hintergrund), Pflaster haben aber tatsächlich eine glücklich machende Wirkung, wenn man sie mag. Von TicTacs bei Halsweh habe ich noch nichts gehört, das Risiko eines Fehlverschluckens wäre mir auch zu groß. Da lass ich die Kinder lieber das Lieblingseis schlecken.

Wovon ich gar nichts halte? Globuli. Homöopathische Mittel wirken nicht über den Placebo-Effekt hinaus, sie werden aber so inflationär eingesetzt, dass Kindern vermittelt bekommen, man müsse bei jedem Wehwehchen etwas geben. Wirkstoffe sind keine drin.

sanego: Und wie sieht es mit Hausmitteln aus? Zu Wadenwickeln bei Fieber, Hühnersuppe bei Erkältungen oder Zwiebeln bei Ohrenschmerzen gibt es ja oft keine Studien. Wie kann ich herausfinden, ob sie wirklich helfen oder sollte ich Hausmittel lieber ganz weglassen?

Dr. Oliver Harney: Hausmittel habe sich über Jahrhunderte bewährt. Wir sprechen von Erfahrungsmedizin. Viele habe natürlich auch hier vor allem eine Placebowirkung. Studien zu Hühnersuppe und Honig im Tee oder pur bei Erkältungen, Halsweh und Husten gibt es und sie fallen tatsächlich positiv aus. Die Gabe von Honig ist den handelsüblichen Hustensäften (die lediglich noch mehr verschleimen) überlegen. Doch, Hausmittel sind gut, auch die verschiedenen Kräutertees wie Kamille, Pfefferminz oder Salbei haben eine Berechtigung in der Behandlung einfacher Erkrankungen. Achtung bei Wadenwickeln: Sie senken Fieber meist nur um maximal ein Grad, wirken aber für die Kinder entspannend und fürsorglich. Wadenwickel sollten aber nur lauwarm angefertigt werden, nicht kalt, und regelmäßig gewechselt werden, damit der Wickel sich nicht aufheizt.

Wichtige Anzeichen: Wann muss mein Kind zum Arzt oder in die Notaufnahme?

sanego: Angenommen, mein Kind hat einen Unfall oder ist krank. Woran erkenne ich, ob es einen Arzt  oder eine Ärztin braucht?

Dr. Oliver Harney: Das ist ein weites Feld. Wir haben für uns in der Praxis ein paar „red flags“ definiert, wann Kinder durch die MFAs zügig einbestellt werden:

  1. Unfälle mit großen Verletzungen, wie unstillbaren Blutungen oder Knochenbrüchen

  2. Säuglinge unter einem halben Jahr mit Fieber über 38,5 Grad Celsius

  3. Eintrübungen/ Bewusstlosigkeit eines Kindes nach Sturz oder im Rahmen einer Erkrankungen

  4. Sehr starke Schmerzen, die sich mit Schmerzmittel nicht beherrschen lassen

  5. Atemnot mit so genannten „Einziehungen“ am Brustkorb

  6. Einblutungen in die Haut, das nennt man „Petechien“, sie können schwere Infektionen anzeigen

Umgekehrt: Bei einem Kind, das trotz Erkrankung spielt, lacht, plappert, ruhig atmet und normal ansprechbar ist, darf beruhigt abgewartet werden, bevor man eine Kinderarztpraxis aufsucht.

sanego: Und wie weiß ich, ob ich sofort Hilfe brauche oder bis nach dem Wochenende warten kann?

Dr. Oliver Harney: Die wichtigsten „red flags“ habe ich zuvor geschildert. Notfallambulanzen sind leider überlaufen mit banalen Erkrankungen, weil Eltern und auch ältere PatientInnen sie als praktische Anlaufstelle am Wochenende missverstehen. Viele Dinge heilen von alleine aus und brauchen keine ärztliche Unterstützung. Aber das ist ein Lernprozess für die Eltern. Spätestens beim dritten Kind wird man entspannter.

Buchcover Müssen wir damit zum Arzt?
Buchcover Müssen wir damit zum Arzt? | © Beltz Verlag

Das ist für den Arztbesuch wichtig

sanego: Was sollte ich zu einem Arztbesuch unbedingt mitbringen?

Dr. Oliver Harney: Entspannung und Geduld. Eine positive Grundeinstellung gegenüber der Praxis, dass mir dort geholfen wird. Entspannte Eltern wirken auch auf die Kinder entspannend. Bringt ein Handtuch zum Liegen oder Draufsitzen mit - zur Müllvermeidung und weil das für Kinder schöner ist, auf einem eigenen Handtuch zu liegen. Ein Kuscheltier oder ähnliches, um Vertrauen zu schaffen. Natürlich das Vorsorgeheft und das Impfbuch. Die Krankenkassenkarte nicht vergessen.

sanego: Worauf sollten Eltern und Kinder bei einem Arztbesuch außerdem achten?

Dr. Oliver Harney: Kinder müssen immer auf den Arztbesuch vorbereitet werden: Bei Impfungen bitte immer ehrlich sein und sagen, dass es kurz weh tut, dass man das Kind beruhigt und eine Belohnung winkt. Bei Vorsorgeuntersuchungen wird gespielt, bei Erkrankungen untersucht und durch die Praxis geholfen.

Eltern sollten diese Vorbereitung schon bei Säuglingen üben, auch wenn einem das seltsam erscheint - das macht es aber umso selbstverständlicher beim älteren Kind. Unvorbereitete Kinder produziert ängstliche, weil unsichere und unwissende Kinder.

Mein Kind ist häufig krank oder verletzt – ist das normal?

sanego: Was können Eltern tun, wenn ihre Kinder sehr häufig krank sind? Wann ist das vielleicht sogar besorgniserregend?

Dr. Oliver Harney: Bei allen Kindern kommt spätestens mit Kindergarteneintritt eine Zeit, in der sie „ständig und immer“ krank sind. Die Nase läuft von Oktober bis Ostern, ein Infekt jagt den anderen. Das ist normal. Der Kindergarten ist gut fürs soziale und infektiologische Üben - man lernt den Umgang mit Menschen und Viren. Uns ÄrztInnen machen wiederholte bakterielle Infektionen Sorgen: Lungen- oder Hirnhautentzündungen, ständige eitrige Rachenentzündungen oder Ohrenerkrankungen. Sie können tatsächlich eine Schwächung des Immunsystems anzeigen. Viel müssen Eltern nicht tun, um das Immunsystem ihrer Kinder zu stärken, denn es stärkt sich alleine. Viel frische Luft, eine ausgeglichene, vitaminreiche und abwechslungsreiche Ernährung, außerdem ein Aufwachsen in rauchfreier Umgebung sind die wichtigsten Faktoren. „Vitaminpräparate“ braucht man nicht.

sanego: Und was können Eltern tun, wenn sich ein Kind häufiger verletzt oder besonders unvorsichtig ist?

Dr. Oliver Harney: Das ist so ähnlich wie bei den Erkrankungen im Kindergartenalter: Beim Laufenlernen, aber auch später beim Spiele ausprobieren gibt es immer eine Phase, in der Kinder viel stürzen, ständig blaue Flecken oder Schürfwunden haben. Auch das gibt sich später wieder. Zuviel Vorsicht, sogar Angst der Eltern vor Verletzungen, führt wiederum zu ängstlichen und übervorsichtigen Kindern, die aber nicht lernen, was gefährlich ist, wo Risiken lauern. Das Gegenteil wird eintreten: Das Kind traut sich nichts auf dem Spielplatz und trainiert dadurch nicht seine Motorik und Koordination.

sanego: Welche Sorge würden Sie Eltern gerne im Zusammenhang Kindergesundheit nehmen?

Dr. Oliver Harney: Ein Husten bedeutet nicht, eine Lungenentzündung zu haben. Kopfschmerzen sind nicht sofort eine Hirnhautentzündung oder Bauchweh eine Blinddarmentzündung. Kinder haben ein sehr robustes Immunsystem und erkranken zum Glück selten wirklich schwer. Internet und besorgte Großeltern führen zu einer hohen Verunsicherung der Eltern. Das Netz versorgt uns - wie in vielen Dingen - mit völlig ungefilterten Informationen, Symptome und Diagnosemöglichkeiten werden alle auf einmal und wenig abgestuft präsentiert. So werden aufgeweckte Kinder zu ADHS-Kandidaten und ein Mückenstich zu Windpocken. Habt mehr Gelassenheit und mehr Vertrauen in die Natur der Gesundheit.

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Autoreninformation

Elisabeth Maußner, Medizinische Redakteurin

Elisabeth Maußner

Medizinische Redakteurin

Elisabeth Maußner ist studierte Journalistin und schreibt bei der ärzte.de MediService GmbH & Co. KG seit 2017 zu medizinischen Themen. Ihr Ziel: komplexe Zusammenhänge und wissenschaftliche Hintergründe einfach und für jeden verständlich auszudrücken. Die erfahrene Autorin hat bereits über 400 Artikel zu Gesundheits- und Medizinthemen verfasst, die u.a. auf aerzte.de, sanego.de und arzttermine.de veröffentlicht wurden.

Außerdem durfte sie Erfahrung beim Radio und beim Produzieren von Videos sammeln.

Persönlich interessiert sie sich insbesondere für Kinder- und Frauengesundheit, eine ausgewogene, intuitive Ernährung und die Digitalisierung im Gesundheitswesen.

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