Jede(r) sollte mindestens einmal im Leben eine Psychotherapie machen. Oder doch nicht? Obwohl inzwischen wohl alle den Begriff Psychotherapie schon mal gehört haben, wissen nur die Wenigsten, was dabei eigentlich passiert und wie die Therapie funktioniert.
Psychologin und Psychotherapeutin Nike Hilber will das ändern. Sie klärt auf Instagram und in Ihrem Buch „Psychotherapie ohne Fachgedöns“ über wichtige Begrifflichkeiten, die Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in und die Mechanismen der Psychotherapie auf. Denn nur wer die Möglichkeiten einer Therapie kennt, kann sich im Zweifelsfall auch Unterstützung holen.
Für uns beantwortet sie die wichtigsten Fragen vor einer Therapie, zum Beispiel: Wann brauche ich eine Therapie? Wie kann ich Wartezeiten überbrücken? Und was erwartet mich bei der ersten Sitzung?
Warum es wichtig ist, über Psychotherapie aufzuklären?
sanego: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Psychotherapie ohne Fachgedöns auf Instagram zu präsentieren?
Nike Hilber: Während meines Psychologie-Studiums und meiner Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin ist mir aufgefallen, dass die psychodynamische Psychotherapie (=tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie) mit sehr komplexen Begriffen hantiert. Auch das Feedback meines Umfelds war, dass diese Begriffe für Laien oft unverständlich sind und daher auch abschreckend wirken können, zum Beispiel wenn es darum geht sich selbst psychotherapeutische Hilfe zu holen. Das wollte ich ändern. Deshalb habe ich meinen Account @la_psychologista ins Leben gerufen, um dort mein Fach unter dem Hashtag #ohnefachgedöns barrierefrei einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
sanego: Obwohl mentale Gesundheit in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, gibt es viele Mythen und Ängste im Zusammenhang mit Psychotherapie. Warum halten sich diese so hartnäckig?
Nike Hilber: Eine große Rolle spielt, dass psychische Erkrankungen an sich nicht so leicht greifbar sind, wie zum Beispiel körperliche Verletzungen. Menschen können psychisch belastet sein, obwohl man es ihnen nicht ansieht. Allein diese Tatsache, kann schon sehr verunsichernd wirken und Ängste schüren. Hinzu kommt, dass Psychotherapie an sich, etwas sehr Privates ist. Sie findet über einen längeren Zeitraum hinter verschlossenen Türen statt, es gilt eine strenge Schweigepflicht. Das lädt zu Spekulationen ein, was da wohl hinter der Kulisse so alles vor sich gehen könnte. Hier spielt Scham eine große Rolle. Zudem haben Medien über Jahrzehnte ein bestimmtes oft sehr negatives Bild von psychisch Erkrankten gezeichnet, dass allerdings in der Regel sehr wenig mit der Realität zu tun hat.

Was wird bei einer Psychotherapie gemacht?
sanego: Sie möchten über Psychotherapie aufklären – vor allem um Hürden zu beseitigen, falls jemand Unterstützung benötigt. Was erwartet die Menschen denn bei Ihrer ersten Sitzung und im weiteren Verlauf?
Nike Hilber: In der ersten Sitzung, der sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunde, wird zunächst festgestellt, ob überhaupt Behandlungsbedarf besteht und falls ja, welcher Art. Sind die Kriterien für eine psychische Störung erfüllt, dann wird eine Psychotherapie empfohlen. Es gibt vier Verfahren die von der Krankenkasse übernommen werden: die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die Verhaltenstherapie, die Systemische Therapie und die analytische Psychotherapie, auch bekannt als Psychoanalyse. In milderen Fällen, kann auch ein Coaching ausreichen oder eine Beratungsstelle weiterhelfen. Im Erstgespräch wird also festgestellt, ob Behandlungsbedarf besteht oder nicht, dass muss man also nicht schon vorher wissen.
sanego: Viele stellen sich Therapeuten und Therapeutinnen als eine Art Gedankenleser:innen vor, die das Gegenüber sofort durchschauen. Was spielt sich tatsächlich zwischen Psychotherapeut:in und Klient:in ab?
Nike Hilber: Letztlich ist es ein Kennenlernen auf Basis einer Arbeitsbeziehung mit dem Ziel, die psychische Störung zu behandeln. Man sieht sich dann in der Regel einmal pro Woche über einen längeren Zeitraum und reflektiert, fühlt und bespricht, die im weitesten Sinne Herausforderungen des Lebens. Psychotherapeut:innen lernen, die richtigen Fragen zu stellen und aktiv zuzuhören, etwas was im Alltag oft eher ungewöhnlich ist. Das wohl wichtigste Handwerkszeug als Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin, ist, die Arbeit mit der Übertragung und Gegenübertragung – also die Dynamik innerhalb der therapeutischen Beziehung und die Reflexion der Beziehungsfähigkeiten meines Gegenübers. Ziele einer Psychotherapie sind die Linderung der Symptome und des Leidensdrucks.
ist approbierte psychologische Psychotherapeutin. In ihrer Praxis arbeitet sie nach dem Konzept der Tiefenpsychologie. Außerdem klärt sie als Wissenschaftsjournalisten über die Grundlagen der Psychotherapie auf.
Wie funktioniert Psychotherapie?
sanego: Was sagt denn die Forschung zur Psychotherapie. Wie wird untersucht, ob ein Konzept wirklich funktioniert und warum funktioniert Psychotherapie überhaupt?
Nike Hilber: Die Psychotherapieforschung untersucht anhand von randomisierten kontrollierten Studien die Wirksamkeit einzelner Psychotherapieverfahren. Oft kommen dabei Metaanalysen zum Einsatz, bei denen viele einzelne Studien zu einem bestimmten Thema zusammengefasst und ausgewertet werden. Die Forschung zeigt, dass es im statistischen Durchschnitt keine systematischen Wirksamkeitsunterschiede zwischen den untersuchten Therapieformen gibt, dieses Phänomen nennt sich Äquivalenzparadoxon. Wie erfolgreich eine Psychotherapie ist, hängt vor allem von der therapeutischen Beziehung ab. Man sollte also zu Beginn einer Psychotherapie auf sein Bauchgefühl hören, fühle ich mich wohl? Stimmt die Chemie zu meiner Psychotherapeutin? Kann ich mir vorstellen über einen langen Zeitraum mit ihr zusammenzuarbeiten?
Die Suche nach einem Therapieplatz
sanego: An welche Stellen können sich Betroffene wenden, wenn sie nicht sicher sind, ob eine Psychotherapie der richtige Weg für sie ist?
Nike Hilber: Wenn Zweifel bestehen, können Betroffene eine psychotherapeutische Sprechstunde, also ein Erstgespräch, bei einer Psychotherapeutin vereinbaren. Genau dafür sind die Sprechstunden da.
sanego: Hat jemand die Angst vor Psychotherapie überwunden, muss die Person trotzdem oft lange auf einen passenden Therapieplatz warten. Können in der Zwischenzeit Übungen, wie aus Ihrem Buch, helfen?
Nike Hilber: Ein Buch kann keine Psychotherapie ersetzen. Die Übungen können allerdings zur Selbstreflexion anregen und dabei unterstützen, sich selbst besser kennenzulernen. Diese aus dem Buch mitgenommenen Impulse können dann während einer Psychotherapie hilfreich sein.
sanego: Was können Sie Menschen noch raten, die gerade einen Therapieplatz suchen?
Nike Hilber: Geduldig bleiben und sich auf Wartelisten setzen lassen, insofern eine geführt wird. Sich nicht entmutigen lassen, wenn man mehrere Absagen erhalten hat. Irgendwann wird es funktionieren. Überbrückend können auch Beratungsstellen in Anspruch genommen werden. Manchmal bekommt man bei psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten schneller einen Platz als über den regulären Weg.
sanego: Was muss sich für Sie ändern, damit Aufklärung über Psychotherapie nicht mehr nötig ist?
Nike Hilber: Neben der Aufklärung über Psychotherapie als Behandlungsmethode sind auch strukturelle Veränderungen notwendig. Die Versorgung sollte so ausgebaut werden, dass Hilfsangebote schnell und ohne hohe Hürden zugänglich sind. Präventive Maßnahmen spielen eine große Rolle, je früher jemand Hilfe bekommt, desto besser. Zudem gilt es, Diskriminierung psychisch Erkrankter entgegenzuwirken und falsche Narrative über psychische Erkrankungen zu korrigieren. Psychotherapie kann dabei auch helfen, doch vor allem sind Veränderungen auf institutioneller Ebene entscheidend.