Gesund sein und gesund bleiben – das ist ein großes Thema unserer Zeit. Doch wie kann dieser Wunsch in Erfüllung gehen? Welche Rolle spielt dabei das Gesundheitssystem? Was können wir vielleicht selbst für gute Gesundheit tun?
Antworten darauf gibt der erfahrene Arzt Dr. med. Michael De Ridder. Er sieht Schwächen in unserem Gesundheitssystem, aber auch viele Chancen und Möglichkeiten. Wie Gesundheit aussehen kann, erläutert er in seinem Buch „Patientenwegweiser“ und in unserem Interview.
sanego: Was ist Gesundheit eigentlich?
Dr. med. Michael De Ridder: Gesundheit ist ein mehrdimensionaler Begriff: Die Medizin definiert ihn eher negativ, nämlich als Abwesenheit von körperlicher, mentaler oder psychischer Erkrankung. Das derzeit dominierende Konzept von Gesundheit geht indes darüber hinaus; es fußt auf dem ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health), einem bio-psycho-sozialen Modell: Nicht mehr Krankheit und ihre Folgen stehen im Mittelpunkt; es orientiert sich vielmehr an dem Vermögen einer Person, die sie betreffende Realität - auch im Zustand klassischer Krankheit oder Behinderung - produktiv zu verarbeiten und zu gestalten.
Die Weltgesundheitsorganisation verabschiedete die ICF 2011. Sie soll einen Anhaltspunkt für den Unterstützungsbedarf von Personen schaffen. Grundlage dafür ist keine Diagnose oder Krankheit, wie sie die ICD vorgibt. Stattdessen werden erstmals auch persönliche und Umweltfaktoren einbezogen. Die ICF legt also fest, ob ein Mensch im Alltag zurecht kommt oder inwieweit er zusätzliche Unterstützung benötigt.
sanego: Wie passt unser Gesundheitssystem in dieses Bild?
Dr. med. Michael De Ridder: Gerade nach dem ICF-Konzept könnte und müsste unser Gesundheitssystem deutlich mehr leisten. In ihm ist nicht ausreichend verankert, dass gerade Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen Potenziale und Ressourcen in sich freisetzen können, die sie subjektiv Gesundheit und Lebenszufriedenheit erleben lassen. Dies zu stützen und zu fördern sollte in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung mehr Raum gewinnen.
Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit
sanego: Sind die Patienten und Patientinnen für die übrigen Bereiche ihrer Gesundheit selbst verantwortlich?
Dr. med. Michael De Ridder: Grundsätzlich ist jeder Mensch selbst für seine Gesunderhaltung verantwortlich, zumal Gesundheit als das höchste Gut gilt. Sie ist die wichtigste Ressource für ein gelingendes Leben. Das muss gerade jungen Menschen früher und intensiver, beginnend in Schule und Kita, vermittelt werden.
sanego: Nicht jede(r) hat die Möglichkeit, sich selbst intensiv mit der eigenen Gesundheit zu beschäftigen. Was wissen wir darüber, welche Rolle Zeit, Geld oder Bildung bei der eigenen Gesundheit spielen?
Dr. med. Michael De Ridder: Seit Jahrzehnten ist belegt, dass neben sozioökonomischem Status und Umweltfaktoren gerade Bildung eine, wenn nicht die zentrale Voraussetzung für Gesunderhaltung und Langlebigkeit darstellt, denn Armut und Bildungsferne sind enorme Krankheitstreiber. Verkürzt ließe sich sagen: Die beste und effizienteste Gesundheitspolitik investiert in optimale Bildung!
sanego: Nehmen wir an, ich habe die Ressourcen mich um meine Gesundheit zu kümmern. Wo fange ich an?
Dr. med. Michael De Ridder: Mit einem gesunden Lebensstil: Ausreichender Schlaf, pflanzenbasierte Kost, möglichst salz- und zuckerarm, täglich eine halbe Stunde körperliche Bewegung bzw. Training, Verzicht auf Drogen, mäßiger Alkoholkonsum und soziales Engagement. Und all dies ist praktisch kostenfrei!
Wo finden Sie Unterstützung für ein gesundes Leben?
sanego: Gesundheitstipps und Informationen begegnen uns im Alltag fast überall – von Nachrichtenseiten bis TikToks. Wie finde ich heraus, was wirklich wichtig ist und was ich ignorieren kann?
Dr. med. Michael De Ridder: Kritisches Hinterfragen von Gesundheitsinformation ist unverzichtbar, insbesondere dann, wenn sie aus nicht überprüfbaren Quellen stammen. Ich gestatte mir hier auf mein Buch zu verweisen; es enthält am Schluss einen ausgiebigen Service-Teil, der über vertrauenswürdige und verlässliche Links und Adressen zu allen gesundheitlichen Fragen informiert.
sanego: Und woran erkenne ich, dass ich mit einem Problem oder einer Beobachtung zum Arzt oder zu einer Ärztin gehen sollte?
Dr. med. Michael De Ridder: Ungewohnte, heftige oder anhaltende, sich spontan nicht bessernde Beschwerden sind in der Regel Anzeichen für eine ernsthafte Erkrankung, die ärztlicher Abklärung bedürfen. Hierzu gehören zahllose Symptome, z. B. Brustschmerz, Atemnot, Bluterbrechen, schwarzer Stuhlgang, hohes Fieber und viele andere mehr.
sanego: Wie sieht es mit Maßnahmen außerhalb der Schulmedizin wie Naturheilkunde oder Alternativmedizin aus. Was würden Sie da empfehlen?
Dr. med. Michael De Ridder: Obwohl es Überschneidungen zwischen Naturheilkunde und Alternativmedizin gibt, muss man sie doch auseinanderhalten. Naturheilkunde ist im Gegensatz zur Alternativmedizin eine wissenschaftlich basierte Zusatzqualifikation, die jeder Arzt und jede Ärztin erwerben kann, für den Graubereich Alternativmedizin gilt dies nicht. Ich empfehle Alternativmedizin allenfalls als Ergänzung zu einer fachärztlichen Behandlung.
ist Facharzt für Innere Medizin und Biologie. Von 2206 bis 2012 leitete er als Chefarzt die Rettungsstelle des Berliner Urban-Krankenhauses. Zudem setzt er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin, Fragen der Gesundheitspolitik und der Stärkung der Patientensouveränität auseinander.
Wann brauchen Sie ärztlichen Rat?
sanego: Immer öfter berichtet Fachpersonal von Patienten und Patientinnen, die eine Bagatelle nicht von einem echten Notfall unterscheiden können. Woran liegt es, dass wir dieses grundsätzliche Wissen verloren zu haben scheinen?
Dr. med. Michael De Ridder: Ob wir dieses Wissen jemals hatten möchte ich bezweifeln. Denn Patienten und Patientinnen erleben ein bestimmtes (akutes) Beschwerdebild, ob eine kleine Schnittverletzung am Finger oder Brustschmerzen, sehr unterschiedlich, d. h. sie „diagnostizieren“ sich selbst als Notfall oder auch nicht und suchen dem entsprechend einen Arzt bzw. eine Ärztin auf oder unterlassen es. Fakt ist indes, dass einerseits Notfalleinrichtungen (Rettungsstellen, Notarztwagen) hierzulande allzu häufig wegen Bagatellbeschwerden (z. B. banale Infekte) oder nicht akuter Erkrankungen (etwa bei chron. Pflegebedürftigkeit) aufgesucht bzw. angefordert werden. Derzeit erarbeitet die Politik ein Notfallreformkonzept, das zum Ziel hat, dringlich zu behandelnde Patienten und Patientinnen, also echte medizinische Notfälle, von weniger dringlichen zu separieren.
sanego: Bei welchen Anzeichen sollte ich also sofort ärztlichen Rat einholen?
Dr. med. Michael De Ridder: Wie oben schon angedeutet sollte ein Arzt, eine Ärztin oder eine Notfalleinrichtung unverzüglich immer dann aufgesucht werden, wenn ungewohnte, anhaltende oder heftige Symptome auftreten, wie z. B. Brustschmerz, akute Atemnot, Bluterbrechen etc. In meinem Buch gibt es hierzu ein ausführliches Kapitel.
Kritik und Chancen unseres Gesundheitssystems
sanego: Gibt es auch Situationen, in denen Sie sich nicht auf unser Gesundheitssystem verlassen würden?
Dr. med. Michael De Ridder: Nein – denn ich wüsste nicht, auf wen oder was ich mich sonst verlassen sollte. Grundsätzlich ist unser Gesundheitssystem so strukturiert und differenziert, dass jedem kranken Menschen eine adäquate Versorgung angeboten werden kann, mag auch manches verbesserungswürdig oder strittig sein und im Argen liegen.
sanego: Welche Änderungen würden Sie sich am aktuellen System wünschen?
Dr. med. Michael De Ridder: Kurz gefasst: Mehr ärztliche Empathie; mehr Zeit für Information und Aufklärung von Patienten und Patientinnen vor einer Behandlung, und, ganz besonders wichtig: Die bisher stiefmütterliche Stellung und Bedeutung der Prävention in der gesundheitlichen Versorgung ist dringend aufzuwerten.
sanego: Können Sie zum Abschluss auch schon positive Neuerungen oder Entwicklungen feststellen?
Dr. med. Michael De Ridder: Einerseits lässt sich am System unserer Gesundheitsversorgung manches kritisieren und verbessern. Andererseits führen – in Deutschland wie auch in anderen Industrienationen - die in immer rascherer Folge zutage tretenden pharmakologischen, technologischen und molekularbiologischen Errungenschaften der Medizin für zahllose Kranke zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität und einer höheren Lebenserwartung: Ob Intensivbehandlung, Herzkatheter, Dialyse, Beatmungstechniken, ob Chemo- oder CART-Zelltherapie, Organtransplantation oder Exoskelette für Tetraplegiker. Millionen Menschen profitieren weltweit und tagtäglich von den Erfolgen einer mehr als hundertjährigen wissenschaftsbasierten Medizin. Trotz Über- Unter- und Fehlversorgung - kein vernünftiger Mensch möchte sie missen.
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