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Medical Gaslighting: Wenn Patienten nicht ernst genommen werden

Von: Nina Kischke

Veröffentlicht: 26.09.2023

Lesezeit: 5 Min.

Patientenwissen | Diagnose | Gesundheitscheck

Ein Gespräch zwischen Arzt und Patient. Man sieht den Oberkörper des Arztes und seine gestikulierenden Hände sowie die gefalteten Hände des Patienten. Zwischen beiden ein Tisch mit Klemmbrett.
Beim Medical Gaslighting wird der oder die Patient:in im Arztgespräch nicht ernst genommen. | © Pcess609 – stock.adobe.com

In der Welt der Medizin ist Vertrauen von entscheidender Bedeutung. Ärzte und Ärztinnen vertrauen darauf, dass Sie sich Ihnen mitteilen und wahrheitsgemäß über Ihren Gesundheitszustand berichten. Sie als Patienten und Patientinnen verlassen sich im Gegenzug darauf, dass ihre Beschwerden ernst genommen werden, eine genaue Diagnose gestellt wird und angemessene Behandlungen empfohlen werden. Doch was passiert, wenn dieses Vertrauen missbraucht wird?

Was ist Medical Gaslighting?

„Medical Gaslighting“ bedeutet, dass Patienten oder Patientinnen von medizinischem Fachpersonal bzw. Ärzten und Ärztinnen nicht ernst genommen oder ihre gesundheitlichen Probleme heruntergespielt werden. Der Begriff leitet sich von dem Konzept des „Gaslighting“ ab, bei dem jemand absichtlich die Realität einer anderen Person manipuliert oder leugnet, um sie infrage zu stellen und zu verunsichern.

Im medizinischen Kontext kann Gaslighting bedeuten, dass Patienten und Patientinnen, insbesondere Frauen, Minderheiten oder Menschen mit schwer diagnostizierbaren Krankheiten, aufgrund von Vorurteilen oder mangelndem Verständnis ihrer Symptome falsch behandelt oder betreut werden. Betroffene können sich dadurch entmutigt und frustriert fühlen, während sie weiterhin mit ihren Gesundheitsproblemen kämpfen.

Medical Gaslighting kann besonders bei Krankheiten vorkommen, die noch nicht gut erforscht und/oder mit Allgemeinsymptomen einhergehen. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind die Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung. Das sogenannte „Long Covid“ ist weder gut erforscht noch eindeutig diagnostizierbar.

Melden Sie sich gerne auf sanego.de an und teilen Sie uns Ihre Erfahrungen zum Thema Medical Gaslighting in unserem Forum mit. Weitere Beispiele von Medical Gaslighting sind:

  • Eine ärztliche Untersuchung, bei der die Beschwerden einer Patientin als „nur Stress“ abgetan werden. Obwohl die Symptome schwerwiegend sind, werden im Anschluss keine weiteren Kontrollen durchgeführt.

  • Ein chronisch kranker Patient, der von Ärzten bzw. Ärztinnen wiederholt gesagt bekommt, dass seine Schmerzen „nur in seinem Kopf“ sind und ihr keine geeignete Behandlung angeboten wird.

  • Ein Arzt oder eine Ärztin, der bzw. die die Anliegen der betroffenen Person ignoriert und stattdessen auf eine vorherige Diagnose besteht, ohne weitere Tests durchzuführen.

Mögliche Gründe für Medical Gaslighting

Sollten Sie von einem Arzt oder einer Ärztin nicht ernst genommen werden, kann das mehrere Gründe haben. Diese können oft komplex sein. Medical Gaslighting wird nicht notwendigerweise von Ärzten bzw. Ärztinnen oder medizinischem Fachpersonal absichtlich betrieben. Vielmehr sind es oft äußere Umstände, die verbessert werden sollten. Mögliche Gründe für Medical Gaslighting können sein:

  • Mangelnde Kenntnis oder Erfahrung: Einige Ärzte und Ärztinnen haben begrenzte Erfahrungen mit seltenen oder schwer zu diagnostizierenden Erkrankungen. Dies kann dazu führen, dass sie Symptome nicht erkennen oder falsch interpretieren.

  • Zeitmangel und Arbeitsdruck: Volle Wartezimmer und knappe Budgets - in überlasteten Gesundheitssystemen haben Ärzte und Ärztinnen oft nur wenig Zeit, um den Patienten oder die Patientin zu behandeln. Dies kann dazu führen, dass Symptome schnell abgetan werden, anstatt eine gründliche Untersuchung und Diagnose durchzuführen.

  • Angst vor Haftung: Aus Angst vor möglichen Konsequenzen könnten Behandelnde zögern, bestimmte Untersuchungen durchzuführen bzw. Risikofaktoren herauszufinden. Wenn etwas schief geht, haftet letztendlich der Arzt oder die Ärztin.

  • Vorurteile: Auch Stereotypen über Geschlecht, Ethnizität, sozioökonomischen Status oder andere Faktoren können dazu führen, dass Patienten bzw. Patientinnen nicht ernst genommen werden.

Arzt schiebt alles auf die Psyche

"Für Betroffene ist es zunächst schwierig zu erkennen, ob körperliche Symptome Ausdruck einer Erkrankung sind oder eines seelischen Leidens sind. Daher ist es wichtig, sie zunächst ärztlich abklären zu lassen. Wenn sich trotz umfangreicher Untersuchungen kein krankhafter Befund ergibt, der die Beschwerden erklärt, lohnt es sich zu schauen, ob die Symptome eventuell eine körperliche Reaktion auf anhaltenden Stress, unbewältigte Konflikte oder eine Depression sein können. In sehr seltenen Fällen liegt den Symptomen auch eine seltene Erkrankung vor, die wenig bekannt und daher schwer zu diagnostizieren ist. Die Beschwerden werden dann häufig als „psychosomatisch“ abgestempelt. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass psychosomatische Beschwerden sehr viel häufiger als seltene Erkrankungen auftreten."

Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Autorin von "Die Patientenfänger", Hirzel 2021

Oftmals werden körperliche Beschwerden, für die es keine offensichtliche Erklärung gibt, zu schnell auf psychische Faktoren zurückgeführt. Dabei wird vermutet, dass psychosomatische Erkrankungen für eine Vielzahl der vorliegenden Symptome verantwortlich sind. In einigen Fällen wird dann vorschnell die Diagnose eines Burn-outs oder einer Depression gestellt.

Daher ist es entscheidend, dass Ärzte bzw. Ärztinnen eine umfassende Untersuchung durchführen, bevor sie eine rein psychosomatische Diagnose feststellen. Die Annahme, dass körperliche Symptome ausschließlich auf Stress oder psychische Belastung zurückzuführen sind, kann dazu führen, dass wichtige Diagnosen und Behandlungen übersehen werden. Oft wird anschließend nicht weiter nach den zugrunde liegenden Ursachen gesucht. Viele Menschen leben dann über Jahre, und manche sogar jahrzehntelang, mit dieser fehlerhaften Diagnose, ohne dass die eigentliche Ursache für ihre Beschwerden erkannt wird.

Arzt nimmt mich nicht ernst – was kann ich tun?

"Es ist wichtig, die Sorge, nicht ernst genommen zu werden, offen und ehrlich anzusprechen. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, eine zweite Meinung einholen und gegebenenfalls weitere Untersuchungen vornehmen zu lassen."

Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychotherapie und Psychologie sowie Autorin von "Die Patientenfänger", Hirzel 2021

Es ist wichtig zu betonen, dass Medical Gaslighting nicht akzeptabel ist, unabhängig von den Gründen dahinter. Patienten und Patientinnen haben das Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung. Daher sollten Sie sich nicht scheuen, Ihre Bedenken direkt mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin zu kommunizieren. So können Sie Ihre Sorgen äußern und darum bitten, eine erweiterte Untersuchung durchzuführen.

"Wichtig ist es, in dieser Situation ruhig und sachlich zu bleiben. Wer klar kommuniziert, wird eher ernst genommen. Nicht zielführend sind Vorwürfe oder ausgreifende Emotionen, weil das beim Gegenüber eher abwehrende Reaktionen hervorruft."

Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Autorin von "Die Patientenfänger", Hirzel 2021

Auch eine zweite und auch dritte Meinung oder die Suche nach alternativen Lösungen kann helfen, wenn Sie das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden.

Die Sensibilisierung für das Problem und die Schulung von medizinischem Fachpersonal zur Empathie und zum Zuhören sind wichtige Schritte zur Vermeidung von Medical Gaslighting.

Autoreninformation

Nina Kischke, Medizinische Redakteurin

Nina Kischke

Medizinische Redakteurin

Seit dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Medienkauffrau Digital und Print im Jahr 2022 ist Nina Kischke als Medizinische Junior Redakteurin bei der ärzte.de MediService GmbH & Co. KG angestellt. Außerdem studiert sie derzeit Medienmanagement an einer Fernuniversität.

Ihren Spaß an Medien und Marketing kann sie beim Schreiben für Portale wie aerzte.de, sanego.de oder arzttermine.de hervorragend mit dem Interesse an Gesundheitsthemen kombinieren. Sie trainiert in ihrer Freizeit im Fitnessstudio und beschäftigt sich daher auch außerhalb ihres Arbeitsalltags gerne mit dem Thema Ernährung und Fitness.

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