Sie strotzen allen Widrigkeiten, gehen unberührt ihren Weg und scheinen dabei glücklich und zufrieden zu sein: Anne Frank, Malala Yousafzai und Stephen Hawking, aber auch die eigene Urgroßmutter, der Nachbar oder eine Arbeitskollegin können Vorbilder für Resilienz sein. Ihre innere Stärke und ihre positive Sicht auf die Welt scheinen sehr viel größer als bei anderen. Warum sind diese Menschen so viel widerstandsfähiger? Und wie können wir ebenso innerlich stark werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter in seinem Buch „Resilienz zwischen Coach und Couch“. Mit uns hat er deshalb darüber gesprochen, wie wir psychisch gesund bleiben, welche Tipps die Resilienz stärken können und warum die gängigen Ratschläge und Ratgeber nicht immer hilfreich sein müssen.
Warum klassische Ratschläge nicht ausreichen
sanego: Am Anfang Ihres Buchs schreiben Sie, dass Sie kein Fan klassischer Ratgeber und weitverbreiteter Ratschläge – wie regelmäßiger Sport, Zeit mit Freunden oder gesunde Ernährung - sind. Warum sehen sie das so kritisch?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Ich sehe es gar nicht so kritisch. Viele der Ratschläge und Ratgeber sind gut. Auch ich finde Themen wie gesunde Ernährung und Sport hochinteressant. Für die Prävention ist gesunde Ernährung zum Beispiel sehr wichtig. Ich empfehle in meinem Buch im Prinzip auch ähnliche Dinge, vor allem im Kapitel „Take Home Messages, Kümmern Sie sich um Ihren Geist und Ihren Körper.“ Was ich daran kritisch sehe, ist, dass viele Ratgeber die Tipps einfach wiederholen, ohne zu wissen, warum. Das versuche ich in meinem Buch anders zu machen. Ich möchte erklären, wie diese zustande kommen. Denn alleine reichen sie eben einfach nicht.
sanego: Sie würden also sagen, dass diese Ratschläge nicht weit genug gehen?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Ja. In Deutschland werden pro Jahr etwa ein Drittel der Menschen psychisch krank. Als in der Neurologie und Psychiatrie tätiger Arzt habe ich beobachtet, dass Menschen mit schweren Krankheiten, glauben oder hoffen, sie müssen einfach nur aufhören zu rauchen und sich „gesund ernähren“, um gesund zu werden. Das ist leider nicht der Fall.
ist stellvertretender ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik an der Charité in Berlin und leitet dort den Forschungsbereich "Mind and Brain". Nach seinem Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie hat er sowohl als Philosoph als auch als Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut sowie als Professor in Frankfurt und Bonn gearbeitet. Schwerpunkte setzt er auf die Hirnforschung sowie die Bewältigung akuter psychiatrischer Krisen und die Behandlung von Depressionen.
Ab wann bin ich psychisch krank?
sanego: Hier müssen wir vielleicht einmal kurz nachhaken. Was bedeutet psychisch krank und psychisch gesund denn in diesem Zusammenhang für Sie genau? Wie definieren Sie „psychisch gesund“?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Umgangssprachlich heißt es oft: Wer keine psychische Störung hat, ist psychisch gesund. Doch tatsächlich ist psychische Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Symptomen. Das bedeutet, es gibt nicht nur eine Dimension - links krank und rechts psychisch gesund – sondern zwei Dimensionen : mehr oder weniger psychisch krank einerseits und mehr oder weniger psychisch gesund andererseits Manche Menschen sind psychisch gesund, dümpeln aber vor sich hin. Dafür gibt es den Begriff „languishing“. Denn psychisch gesund sein umfasst Aspekte wie Glück, Sinn und soziales Wohlbefinden. Das sind Aspekte psychischer Gesundheit, an die Psychiater und Psychotherapeuten oft nicht denken.
sanego: Allgemein ist der Begriff „Wohlbefinden“ sehr interessant. Denn er beinhaltet ja für jede(n) etwas anderes. Woran erkenne ich denn, dass ich an meinem Wohlbefinden arbeiten sollte?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Ja, zum Wohlbefinden gibt es verschiedene Fragebögen. Einer davon findet sich auch in meinem Buch. Für mich klingt der Begriff Wohlbefinden leider zu sehr nach Luxus. Ich bevorzuge deshalb, von den drei Aspekten eines guten Lebens zu reden. Das ist erstens das angenehme Leben. Es umfasst Dinge wie Belohnung, Komfort, Spaß, Lust und Sicherheit, also Dinge, die wir mit dem Begriff „Glück“ verbinden. Zweitens ist da das sinnvolle Leben. Hier geht es um Ziele, Sinn, Werte, Orientierung und Zugehörigkeit, also die Einbettung in ein größeres Ganzes. Der dritte Aspekt, das interessante Leben, ist bis jetzt noch kaum diskutiert und auch in der Forschung recht neu. So gibt es Menschen, die Spaß und Sinn im Leben haben, ihnen fehlt aber trotzdem etwas. Andere Menschen haben wenig Spaß und wenig Sinn und sagen trotzdem, Sie hätten ein gutes Leben. Diesen dritten Aspekt des guten Lebens bezeichne ich anknüpfend an die Forschung als „Reichhaltigkeit“. Man kann ein unglückliches, ja, sinnarmes Leben führen, aber reichhaltige Erfahrungen machen, die das Leben interessant oder besonders machen. Dies ist gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen relevant. Denn es gibt Menschen, denen es nicht gut geht, die diesen dritten Aspekt des guten Lebens aber sehen und wertschätzen gelernt haben.
sanego: Das gute Leben ist also eine Art Grundlage für die Resilienz?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Ja, bei Glück und Sinnhaftigkeit wissen wir das bereits. Bei der Reichhaltigkeit fängt die Forschung gerade erst an.
Was bedeutet Resilienz genau?
sanego: Bevor wir weiter mit der Resilienz einsteigen, können Sie definieren, was Resilienz eigentlich ist?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Resilienz bedeutet, trotz Widrigkeiten psychisch gesund zu bleiben oder es rasch wieder zu werden. Das betrifft die Gesunden, die nicht krank werden wollen, genauso auch Menschen mit psychischen Problemen, die wieder gesund werden möchten. Das Interessante ist, auch wenn man es kaum glauben mag, dass Resilienz der Normalfall ist. Es gibt viele Untersuchungen zu dramatischen Ereignissen, 9/11, Krieg, Naturkatastrophen oder Todesfällen, die zeigen, dass die meisten Menschen, ca. zwei Drittel, trotz dieser schlimmen Ereignisse psychisch nicht beeinträchtigt werden oder relativ rasch wieder auf die Beine kommen.
sanego: Wir alle kennen Beispiele von Menschen, die mehrmals schlimme Erlebnisse hatten und trotzdem glücklich und zufrieden wirken und andere, die von einem Schicksalsschlag komplett aus der Bahn geworfen werden. Kann man denn genau sagen, was der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Das liegt an vielfältigen Faktoren. Einer davon ist die natürliche Ausstattung. Es scheint Menschen zu geben, die von ihrer Veranlagung her wie der Löwenzahn sind: sie gedeihen auch unter widrigen Umständen. Aber unter günstigen Umständen werden sie nicht prächtiger. Andere Menschen sind eher wie Orchideen. Sie sind empfindlicher und müssen gut gepflegt werden müssen, damit sie nicht eingehen. Unter günstigen Umständen blühen sie dagegen auf. Resilienz hat auch damit zu tun, dass man schon früh gelernt hat, mit herausfordernden Umständen fertig zu werden. Ein gewisses Ausmaß an Schwierigkeiten ist nötig, um resilient zu werden. Das wird als Stressimpfung bezeichnet. Doch wenn der Stress zu groß wird, dann hat er negative Folgen und ist schädlich.

Warum jeder über psychische Krankheiten Bescheid wissen sollte
sanego: Ein Punkt, den Sie zum Thema Resilienz gleich am Anfang Ihres Buches ausführen, ist das Wissen über psychische Krankheiten. Warum ist das so wichtig?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Wir sprechen oft von psychisch Kranken, als würde das nicht uns, sondern „die Anderen“ betreffen. Aber wir sollten uns klar machen: Ein Drittel aller Europäer erfüllt im Laufe eines Jahres die Diagnose von mindestens einer psychischen Erkrankung. Wenn man einmal anfängt, über Symptome und Erkrankungen zu sprechen, das kennen wir Psychiater und Psychologen sehr gut, zeigt sich, dass sehr viel mehr Menschen mit psychischen Problemen und Störungen zu kämpfen haben, als wir überlicheweise glauben. Einige davon sind vorübergehend. Doch die Mehrzahl der wiederkehrenden, chronischen Erkrankungen beginnt im Kindes- und Jugendalter. Das ist wenig bekannt und wird nicht ernst genug genommen. Deshalb geht es mir nicht nur um die Gesunden, sondern auch um die psychisch Kranken. Denn auch die möchten ja resilient sein oder werden. Resilienz kann man auch trainieren, wenn man psychisch krank ist.
Wie Sie Ihre Resilienz stärken
sanego: Was kann ich denn zum Beispiel tun, um meine Resilienz zu trainieren?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Es gibt verschiedene Strategien und Taktiken, die ich in meinem Buch erläutere. Zuerst sollten Sie prüfen, ob Sie psychisch krank sein könnten und was Sie dagegen tun können und sollten. Zweitens können Sie Ihre psychische Gesundheit stärken. Das kann jeder machen, ob mit oder ohne Diagnose. Fragen Sie sich: Wie sieht es mit Glück, Sinn und Reichhaltigkeit in meinem Leben aus und was kann ich tun, diese zu verbessern? Der dritte Punkt besteht darin, vermeidbaren Stress zu bändigen. Und die vierte Strategie ist es, sich um ihren Geist so zu kümmern, wie sie auch ihren Körper pflegen.
Für diese vier Strategien gibt es verschiedene Taktiken. Sie sollten sich zum Beispiel selbst gut kennen, neue Verhaltensgewohnheiten aufbauen, oder Therapie machen. Es gibt sogar Medikamente, die die Resilienz vielleicht erhöhen können. Weitere Taktiken, die ich erläutere, kommen unter den gängigen Tipps und Ratschlägen seltener vor. Dazu gehören etwa soziale Berührung und Sexualität, Hormesis, also sich selbst fordern oder der Spaß-Faktor: no fun, no change. Aber auch Exitstrategien sind unerlässlich, d.h. zu wissen, wann man aufhören sollte, widrige Umstände nur auszuhalten. Eine Depression sendet zum Beispiel das Signal „Stopp! Du solltest Hilfe holen und Dein Leben ändern.“ Und last but not least: Gelassenheit und Akzeptanz („Mach mal halblang.“). Manche Dinge sind nicht zu verbessern oder zu verändern. Man sollte also die eigenen Grenzen kennen und annehmen.
sanego: Wenn ich das alles geschafft habe, heißt das aber nicht, dass ich nicht mehr psychisch krank werde, oder?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Nein, leider nicht. Und selbst wenn: Weder Sie noch ich werden alle neun Taktiken perfekt beherrschen. Ich kenne niemanden, der all dies perfekt umsetzt. Wenn wir uns beschränken müssen, gibt es sowohl allgemeine als auch spezifische Ratschläge. Sich genug bewegen, gesund ernähren oder richtig schlafen, ist fast immer gut. Aber es kommt dort wie auch sonst darauf an, von welchen Strategien Sie persönlich am besten profitieren würden. Der Tag hat ja nur 24 Stunden, Sie können nicht alles umsetzen. Stattdessen sollten Sie prüfen, welche Taktiken für Sie am geeignetsten sind, um das Ziel der Resilienz zu erreichen.
sanego: Wenn ich an meiner Resilienz arbeiten möchte, wo würden Sie da anfangen?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Theoretisch wäre es am besten, wenn man einen wohlwollenden Resilienz-Coach hätte, der, zumindest am Anfang, eine Art Diagnose wie in der Medizin stellt. Aber man kann dies auch selbst machen. Welche Resilienzfaktoren sind bei Ihnen gut ausgebildet und welche schlecht? Im zweiten Schritt entscheiden Sie dann, woran Sie arbeiten möchten. Dazu ein Tipp: An dem, was Sie sowieso schon sehr gut können, müssen Sie nicht viel arbeiten. An dem, was Sie ganz schlecht können, lohnt es sich nicht zu arbeiten. Das Beste ist im mittleren Bereich, also die hilfreichen Einstellungen und Verhaltensweisen, zu denen sie schon neigen, auszubauen und zu stärken.
sanego: Würden Sie jedem bzw. jeder empfehlen, die Resilienz zu verbessern?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrick Walter: Ausnahmslos jedem empfehlen würde ich das nicht. Manchen Menschen geht es gut genug, warum sollten die an ihrer Resilienz arbeiten? Mein Buch ist für Menschen, die resilienter werden möchten und für Menschen, die es werden sollten. Für diese habe ich einen Überblick geschrieben, was Resilienz ist und welche Faktoren sie beeinflussen. Von mir werden Sie nicht die 3 Geheimtipps hören, die jeden garantiert resilienter machen. Das wird nicht funktionieren, weil wir dafür alle viel zu verschieden sind.
Ein besseres Leben ist möglich
sanego: Haben Sie abgesehen davon, noch einen abschließenden Rat für unsere Leser:innen?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Ich möchte die Leute ermutigen, dass es funktionieren kann, ein besseres Leben zu führen, wenn man sich selbst gut kennenlernt. Dazu gehört auch und unausweichlich, Fehler und Schwächen zu akzeptieren, man soll nicht perfekt sein wollen. Wenn Sie nur eine Sache für die körperliche Gesundheit machen könnten, dann wäre es mit dem Rauchen aufzuhören. Für die Psyche ist das Äquivalent des Rauchens das Katastrophisieren. Man sollte es durch hilfreichere Reaktionsweisen ersetzen. Sagen Sie sich nicht: „O Gott! Auch das noch. Immer ich. Das wird schlimm enden!“ In unseren Studien haben wir sehr konsistent gefunden, dass ein solches Katastrophisieren mit geringer Resilienz einhergeht. Dagegen gilt: Auch schlimme Dinge ins Verhältnis zu setzen, trotz Schmerz und Leid auch etwas Positives oder zumindest Nützliches daraus zu ziehen, ohne in unrealistische Schönfärberei zu verfallen, ein sogenannter positiver Bewertungsstil, geht mit hoher Resilienz einher. Das ist eine Kunst. Doch das Gute daran: Sie lässt sich erlernen.