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/ ME/CFS: Wenn Erschöpfung zur lebensverändernden Krankheit wird

ME/CFS: Wenn Erschöpfung zur lebensverändernden Krankheit wird

Von: Tamara Todorovic

Veröffentlicht: 21.05.2025

Lesezeit: 7 Min.

Diagnose | Behandlung | Symptome

Eine erschöpfte Frau sitzt aufrecht im Bett. Sie stützt ihren Kopf mit ihrer rechten Hand ab.
Die neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS hat erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen. | © StockPhotoPro - stock.adobe.com

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwerwiegende, chronische Erkrankung, die das Leben der Betroffenen massiv einschränkt. In Deutschland sind Schätzungen zufolge über 600.000 Menschen betroffen – Tendenz steigend. Trotz der hohen Krankheitslast blieb ME/CFS lange Zeit unbeachtet. Erst durch die COVID-19-Pandemie rückte die Erkrankung verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit und Forschung.

Allein in Deutschland verursachen Long COVID und ME/CFS laut Schätzungen volkswirtschaftliche Kosten von rund 63 Milliarden Euro pro Jahr – ein gewaltiger, bislang oft unterschätzter Einfluss auf das Gesundheitssystem und die Wirtschaft.

ME/CFS und Long COVID: Zwei Erkrankungen mit vielen Gemeinsamkeiten

Nach einer SARS-CoV-2-Infektion berichten viele Menschen über anhaltende Symptome wie extreme Erschöpfung, Konzentrationsstörungen und Kreislaufprobleme – Beschwerden, die auch für ME/CFS typisch sind. Obwohl Long COVID und ME/CFS nicht identisch sind, gibt es deutliche Überschneidungen. Studien zeigen, dass ein signifikanter Anteil der Long-COVID-Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt. Diese Erkenntnisse haben das Interesse an ME/CFS in der medizinischen Forschung und Öffentlichkeit deutlich erhöht.

Symptome und Diagnose: Wenn der Körper nicht mehr kann

ME/CFS ist eine komplexe neuroimmunologische Erkrankung mit vielfältigen Symptomen:

  • Fatigue: Eine tiefe, anhaltende Erschöpfung, die durch Ruhe nicht gelindert wird.

  • Post-Exertional Malaise (PEM): Eine Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung.

  • Schlafstörungen: Unerholsamer Schlaf und Schlaflosigkeit. Kognitive Beeinträchtigungen: Konzentrations- und Gedächtnisprobleme.

  • Schmerzen: Muskel- und Gelenkschmerzen ohne entzündliche Ursache.

  • Neurologische und autonome Symptome: Schwindel, Herzrasen und Temperaturregulationsstörungen.

Die Diagnose basiert auf klinischen Kriterien, da spezifische Biomarker bislang fehlen. Wichtig ist der Ausschluss anderer Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik. Die CDC (US-amerikanische Behörde „Centers for Disease Control and Prevention“) empfiehlt eine gründliche Anamnese, körperliche Untersuchung und gezielte Labortests.

Schweregrade: Von eingeschränkter Aktivität bis zur Bettlägerigkeit

ME/CFS kann in vier Schweregrade eingeteilt werden:

  1. Mild: Eingeschränkte Aktivität; Betroffene verzichten oft auf Freizeitaktivitäten zugunsten von Arbeit oder Ausbildung.

  2. Moderat: Deutliche Einschränkungen; viele müssen ihren Beruf aufgeben und erleben eine Verschlechterung der Symptome nach Anstrengung.

  3. Schwer: Minimale Alltagsaktivitäten wie Zähneputzen sind nur mit großer Anstrengung möglich; Rollstühle müssen häufig genutzt werden. Das Leben spielt sich meist im Haus ab.

  4. Sehr schwer: Bettlägerigkeit; Unfähigkeit zu sprechen oder selbstständig zu essen. Zusätzlich besteht eine extreme Empfindlichkeit gegenüber Reizen wie Licht und Geräuschen.

Die Schweregrade können im Krankheitsverlauf schwanken. Einzelne Betroffene können Symptome unterschiedlicher Schweregrade gleichzeitig erleben.

Ursachen und Auslöser: Eine Krankheit mit vielen Facetten

Die genauen Ursachen von ME/CFS sind noch nicht vollständig geklärt. Häufig tritt die Erkrankung nach Infektionen auf, wie z. B. durch das Epstein-Barr-Virus oder SARS-CoV-2. Neuere Studien zeigen, dass die Inzidenz von ME/CFS nach COVID-19-Infektionen signifikant gestiegen ist. Forschungsergebnisse deuten auf eine Fehlregulation des Immunsystems und Veränderungen im Gehirn hin. Eine Studie identifizierte beispielsweise Ungleichgewichte in der Gehirnaktivität, insbesondere im temporoparietalen Übergang und im motorischen Kortex, die mit der Symptomatik von ME/CFS in Verbindung stehen könnten.

Was ist der temporoparietale Übergang und motorische Kortex?

Der temporoparietale Übergang ist ein Bereich im Gehirn, an dem der Schläfen- und der Scheitellappen aufeinandertreffen. Er ist wichtig für Funktionen wie Aufmerksamkeit, Empathie und das eigene Körpergefühl. Der motorische Kortex hingegen steuert willkürliche Bewegungen wie Gehen oder Greifen. Beide Regionen sind an der Verarbeitung von Sinneseindrücken und der Bewegungssteuerung beteiligt – Bereiche, die bei ME/CFS häufig beeinträchtigt sind.

In jüngerer Zeit wurde auch diskutiert, ob COVID-19-Impfungen in seltenen Fällen ME/CFS-ähnliche Symptome auslösen können. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) berichtete bis Mai 2023 über 1.547 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen nach COVID-19-Impfungen, die Symptome wie chronische Erschöpfung, posturales Tachykardiesyndrom (POTS) und Post-Exertional Malaise (PEM) umfassten. Diese Fälle wurden unter dem Begriff "Post-Vac-Syndrom" zusammengefasst.

Eine Studie von Semmler et al. (2023) untersuchte Patienten und Patientinnen, die nach einer COVID-19-Impfung anhaltende Symptome wie chronische Fatigue und Dysautonomie entwickelten. Die Autoren schlagen vor, diese Symptomatik als "Post-Acute COVID-19 Vaccination Syndrome" (PACVS) zu bezeichnen.

Es ist wichtig zu betonen, dass solche Reaktionen sehr selten sind und die Vorteile der Impfung gegen COVID-19 die potenziellen Risiken überwiegen. Dennoch sollten Patienten und Patientinnen, die nach einer Impfung anhaltende Symptome entwickeln, ernst genommen und medizinisch betreut werden.

Therapie und Behandlungsmöglichkeiten: Fokus auf Symptomlinderung

Derzeit gibt es keine heilende Therapie für ME/CFS. Die Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität:

Pacing: Eine Methode zur Energieeinteilung, um Überanstrengung zu vermeiden.

Symptomorientierte Behandlung: Einsatz von Medikamenten zur Linderung spezifischer Symptome wie Schmerzen oder Schlafstörungen.

Psychosoziale Unterstützung: Psychologische Betreuung zur Bewältigung der Krankheitsfolgen.

Frühere Ansätze wie kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und abgestufte Bewegungstherapie (GET) wurden kritisch hinterfragt, da sie bei vielen Patienten und Patientinnen keine Verbesserung bewirken und sogar schädlich sein können.

Auswirkungen auf Betroffene und Angehörige

ME/CFS hat tiefgreifende Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche der Betroffenen:

Soziale Isolation

Die Symptome der Erkrankung führen häufig zu einem massiven Rückzug aus dem sozialen Leben. Viele Betroffene sind aufgrund ihrer eingeschränkten körperlichen Belastbarkeit kaum noch in der Lage, an gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen. Treffen mit Freunden und Freundinnen oder Familienmitgliedern, Freizeitaktivitäten oder selbst alltägliche Erledigungen werden zur unüberwindbaren Herausforderung. Diese Entwicklung führt in vielen Fällen zu einer zunehmenden sozialen Isolation, die das seelische Wohlbefinden weiter beeinträchtigen kann.

Berufliche Konsequenzen

Auch im beruflichen Kontext kann ME/CFS erhebliche Folgen haben. Viele Patienten und Patientinnen sind aufgrund ihrer Symptome nicht mehr arbeitsfähig – sei es dauerhaft oder über längere Zeiträume hinweg. Der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet nicht nur finanzielle Unsicherheit, sondern auch den Verlust sozialer Teilhabe und beruflicher Identität. Die beruflichen Konsequenzen führen häufig zu Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und zu zusätzlichem emotionalem Stress.

Psychische Belastung

Die psychische Belastung ist zudem oft erheblich. Chronische Schmerzen, anhaltende Erschöpfung und das Unverständnis im sozialen und medizinischen Umfeld wirken sich negativ auf die psychische Gesundheit aus. Viele Betroffene entwickeln im Laufe der Zeit Depressionen, Angststörungen oder andere psychische Folgeerkrankungen – nicht als Ursache, sondern als Reaktion auf den belastenden Krankheitsverlauf.

Herausforderungen für Angehörige

Auch Angehörige stehen vor großen Herausforderungen. Die Pflege, Betreuung und emotionale Unterstützung eines erkrankten Familienmitglieds erfordert viel Zeit, Kraft und Organisation. Besonders in schweren Fällen, in denen Betroffene dauerhaft bettlägerig sind, kann die Situation für Partner:innen, Eltern oder Kinder schnell zur körperlichen und psychischen Belastung werden. Nicht selten erleben Angehörige Überforderung, Hilflosigkeit oder soziale Isolation, da sich auch ihr Alltag maßgeblich verändert.

Mangelnde gesellschaftliche Anerkennung

Diese ohnehin schwierige Situation wird zusätzlich durch die mangelnde gesellschaftliche und medizinische Anerkennung der Erkrankung verschärft. Fehlende Diagnosemöglichkeiten, unzureichende Versorgung und Vorurteile im Umfeld führen dazu, dass sich viele Betroffene und ihre Familien im Stich gelassen fühlen. Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, ist für viele eine der größten Belastungen im Umgang mit der Krankheit.

Forderungen von Fachgesellschaften: Mehr Forschung und bessere Versorgung

Verschiedene Fachgesellschaften setzen sich für eine bessere Versorgung und mehr Forschung ein:

  • Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Fordert mehr Forschung, öffentliche Anerkennung und eine bessere medizinische Versorgung.

  • Charité – Universitätsmedizin Berlin: Betont die Notwendigkeit einer interdisziplinären Versorgung und spezifischer Diagnostik.

  • IQWiG: Hält die Erkrankung für eine chronische, stark lebensqualitätsmindernde Krankheit und betont die Notwendigkeit weiterer Forschung.

Diese Institutionen fordern unter anderem:

  • Aufbau von Kompetenzzentren: Spezialisierte Einrichtungen zur Diagnose und Behandlung.

  • Forschungsoffensive: Gezielte Studien zur Ursachenklärung und Therapieentwicklung.

  • Aufklärungskampagnen: Sensibilisierung der Öffentlichkeit und medizinischen Fachkreise.

Fazit: Ein Weckruf für Gesellschaft und Medizin

ME/CFS ist eine ernstzunehmende Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen. Trotz zunehmender Aufmerksamkeit besteht weiterhin ein großer Bedarf an Forschung, medizinischer Versorgung und gesellschaftlicher Anerkennung. Es ist entscheidend, dass Betroffene ernst genommen und angemessen unterstützt werden.

Die COVID-19-Pandemie hat das Bewusstsein für ME/CFS geschärft und die Notwendigkeit von Forschung und Versorgung verdeutlicht. Fachgesellschaften, Forschungseinrichtungen und Patientengruppen fordern nun verstärkt Aufmerksamkeit, Versorgungsstrukturen und Forschungsförderung, um die Versorgungslücke zu schließen.

Autoreninformation

Tamara Todorovic, Medizinische Redakteurin

Tamara Todorovic

Medizinische Redakteurin

Tamara Todorovic studierte Germanistik und English & American Studies. Während dieser Zeit arbeitete sie beim Jugendmagazin des Franken Fernsehens, einem Hörfunksender der Mediaschool Bayern, sowie Deutschlands führendem Medienunternehmen für Gaming- und Hardware-Trends.

Anschließend absolvierte sie ihr Volontariat bei unternehmer.de. Seit April 2021 ist sie bei der ärzte.de MediService GmbH & Co. KG, zu der sanego.de gehört, als Medizinische Redakteurin tätig und auch für den Bereich Content Commerce zuständig.

Während Tamaras Schulzeit im sozialen Zweig einer Fachoberschule kristallisierte sich ihr Interesse für Psychologie und Pädagogik heraus. Ihre schulischen Praktika absolvierte sie in den Dr. Erler Kliniken Nürnberg, bei der Nürnberger Tafel, in Kindergärten sowie in einem Pflegeheim. Ihr fachliches Wissen sowie diese Praxiserfahrung im sozialen Bereich gibt sie am liebsten in Artikeln rund um das Thema mentale Gesundheit zum Besten.

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